Russische Ansichten - sowjetische Wirtschaftsinteressen in Österreich 1945-1955
Wien (FWF) - Die Geschichte, auch die Wirtschaftsgeschichte, der österreichischen Nachkriegszeit ist sehr gut erforscht - allerdings basierend auf westlichen Sichtweisen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die bis dahin unzugänglichen russischen Archive teilweise geöffnet. Dies haben Dieter Stiefel und seine Mitarbeiterin Ingrid Fraberger vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, unterstützt vom Wissenschaftsfonds genutzt, um die Jahre 1945 bis 1950 erstmals aus russischer Perspektive aufzuarbeiten. Auf das Ergebnis können Spezialisten ebenso gespannt sein wie geschichtsinteressierte Leser: Mehrere Bücher, Artikel und Vorträge sind bereits in Arbeit.
Bei ihrem Abzug aus Österreich 1955 hatten die Sowjets alle ihre Archive mitgenommen. Erst seit einiger Zeit sind einige davon, die meisten in Moskau untergebracht, wieder zugänglich. Erstmals lässt sich somit die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg aus östlicher Sicht recherchieren und bewerten. "Wir haben uns vorab auf drei Themen konzentriert: die sowjetische Demontagetätigkeit in Österreich, der sowjetische Wirtschaftskörper (USIA) in Österreich und die Hauptverwaltung für sowjetisches Vermögen im Ausland in Moskau", umreißt Stiefel sein Forschungsprojekt. Die Demontagen, die unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee in Österreich 1945 einsetzten, dürfen nicht unterschätzt werden. Obwohl im Vergleich zu Deutschland relativ wenige Anlagen und Materialien abtransportiert wurden, umfassten die Demontagen einen geschätzten Wert von rund 131,2 Mio. Dollar. "Nach dem Ende der Demontagen gingen die Sowjets Mitte 1946 zum Aufbau eines sowjetischen Wirtschaftskörpers namens USIA über, in der alle ehemaligen ‚deutschen Eigentümer' zur zentralen Verwaltung eingingen - immerhin rund 300 Wirtschaftsunternehmen und land- und forstwirtschaftliche Güter in Ostösterreich", erläutert Stiefel.
Nebeneinander zweier Wirtschaftssysteme
"Am interessantesten am Thema USIA ist wohl die Frage, wie ein solcher planwirtschaftlicher Konzern in einem marktwirtschaftlichen Umfeld funktioniert", so Stiefel. Es gab eine Unmenge an Schwierigkeiten, die teilweise einfach aus dem völligen Unverständnis der beiden Seiten herrührten, teilweise auf gegenseitiger Ablehnung beruhten. So gab es z.B. bei Bund und Ländern schwarze Listen mit USIA-Betrieben, die keine öffentlichen Aufträge erhalten sollten. Ab 1951 hörten die Russen schließlich auf, in die österreichischen Betriebe zu investieren, der Abzug der östlichen Besatzungsmacht zeichnete sich langsam ab. Koordiniert wurde die österreichische USIA bis dahin allerdings von Moskau aus - von der Hauptverwaltung für das sowjetische Vermögen im Ausland. Sie entstand 1945 und entsprach im wesentlichen einem Ministerium, das ursprünglich nach Branchen gegliedert war. Um 1950 beschäftigte die Zentrale in Moskau ca. eine halbe Million Personen. Dennoch hatte sie lediglich Vorschlagsrecht, die Entscheidungen fällte letztlich das staatliche Planungskomitee. "Zu jeder Antwort, die wir erhalten, kommen eine Reihe neuer Fragen hinzu. Wir werden daher in den nächsten Jahren weitere Untersuchungen starten, zunächst aber die wertvollen Erkenntnisse aus diesem Projekt umfassend aufarbeiten und veröffentlichen", erklärt Stiefel.
Wissenschaftlicher Kontakt
Univ. Prof. Dr. Dr. Dieter Stiefel
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Aussender
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T 01 710 85 99
Wien, am 6. Dezember 2001