H. H. Behrs interdisziplinäres Schreiben - ein Beitrag zur Geschichte der Latenz
H. H. Behr´s Interdisciplinary Writing: A Contribution to the History of the Latent
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (15%); Philosophie, Ethik, Religion (15%); Sprach- und Literaturwissenschaften (70%)
Keywords
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German Ethnographic Novel,
Grotesque Writing,
Concept of the Latent,
Poetics of Science,
Cultural Transfers,
German Americans
Das vorliegende Projekt unternimmt erstmals eine Rekonstruktion und Zusammenschau von Leben, wissenschaftlichem und literarischem Werk des deutsch-amerikanischen Arztes, Botanikers und Autors Hans Hermann Behr (1812-1904). Darauf aufbauend werden unter interdisziplinär-kulturtheoretischen Prämissen das in seinem uvre anzutreffende Interdependenzverhältnis von Wissen und Poesis und die diesem zugrundeliegenden wissenschaftlichen und kulturellen Transferbeziehungen analysiert. Die Bandbreite von Behrs Wissensthematisierung reicht von realistischem bis zu protoavantgardistischem Schreiben und ist ein bislang unbeachteter transnationaler Aspekt der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels im Zeichen von Globalisierung und intensivierter Kulturkontakte erachten wir die Entwicklung des Behrschen Werks als symptomatisch für den komplexen Diskurshaushalt der Moderne, insbesondere für die Rede vom Fremden. Textsicherung und literaturhistorische Auswertung schließen nicht nur eine Lücke in der Germanistik wie in der Amerikanistik, sondern werfen auch komparatistische Fragen auf, die auf kulturwissenschaftlichem Hintergrund beantwortet werden sollen. Unser Vorhaben gründet sich darauf, Behrs populärliterarische Wissensvermittlung und -reflexion in ihrer kritisches Denken propagierenden Verzahnung von homo scientificus, litterarius und politicus zu untersuchen. Dabei stellt die diskursanalytische und wissensökonomische Analyse der spezifischen Koppelung von Leitdiskursen des 19. Jahrhunderts die erste interdisziplinäre Herausforderung dar. Dass die Formen von Roman und Groteske dazu eingesetzt werden, Aporien zeitgenössischer aktueller Forschung kommensurabel zu halten und zu popularisieren, macht Behr zum untersuchungswürdigen raren Exempel des aufklärerisch schreibenden Naturforschers. Deutet man den von Behr eingesetzten Humor als Verweis auf die Latenzerfahrung und damit als epistemologisches Konstituens der Moderne, führt dies zur zweiten interdisziplinären, diesmal wissensgeschichtlich dimensionierten Herausforderung: der Systematisierung seiner poetologischen und latenztheoretischen Funktion. Angesichts der Tatsache, dass in der kulturwissenschaftlich geprägten Philologie der Beitrag von (Populär- )Literatur zum Wissens- und Gedächtnishaushalt während epochaler Umbruchsphasen wie der Moderne noch nicht erschöpfend erforscht ist und dass eine "Wiedergutmachung historischen Unrechts" 1 als eine der Hauptaufgaben heutiger Germanistik eingemahnt wird, erscheint uns eine Auseinandersetzung mit Behr wissenschaftsstrategisch wie -theoretisch vielversprechend. Die sein Werk auszeichnende Epistemologie und Poetik endlich umfassend freizulegen, eröffnet die Möglichkeit, auf Basis einer stringenten, von der Wissensökonomie des Humors abgeleiteten Terminologie die von genealogisch-archäologischen Ansätzen erarbeitete Vielfalt latenztheoretischer Konzepte zu kalibrieren. 1 Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München-Wien: Carl Hanser 2002, 20.
Die Aufarbeitung von Leben und Werk des deutsch-kalifornischen Arztes, Biologen und Autors Hans Hermann Behr (1818-1904) erschließt eine nahezu vergessene Biographie im kulturellen sowie wissenschaftlichen Leben aus der Pionierzeit San Franciscos und legt einen wichtigen Beitrag zur Tradition des deutschsprachigen politischen Abenteuerromans und der amerikanischen Groteske frei. Behrs Werdegang von einem problembewussten Sympathisanten der 1848er Revolution hin zu einem weltoffenen Pionier der sich formenden multikulturellen amerikanischen Gesellschaft wird anhand umfangreichen Quellenmaterials rekonstruiert. Die literatur- und motivgeschichtliche Analyse seines Australien-Romans Auf fremder Erde (1864) und seines Kalifornien-Romans Dritte Söhne (1870) erhellt Behrs Verdienst um die humoristische Darstellung der deutschen Identitätssuche in einer sich globalisierenden Welt und der Revolutionsereignisse von 1848. Dies machte ihn zu einer Schlüsselfigur des politischen Gedächtnisses, wie insbesondere die erstmals analysierte Rezeption bei Wilhelm Raabe belegt. Die damit verknüpfte Beschäftigung mit der Außenseiter- und Abenteurer- Thematik erhellt den kulturgeschichtlichen Rahmen zeitgenössischer Gesellschaftskritik und macht Behrs Hauptveröffentlichungen als Meta-Abenteuerromane lesbar. Darüber hinaus vertritt Behr mit seinem Interesse für ethnographische und ökologische Fragestellungen bei der literarischen Darstellung von Wissensbeständen undogmatische aufklärerische Positionen. Deren Analyse in Zusammenhang mit Distanzierungs- und Verfremdungstechniken wie Humor, Ironie und Groteske eröffnet einen neuen Zugang zum Phänomen der Latenz. Unter differenztheoretisch-literarischem Blickwinkel wird sie als neutrale Größe beim Entstehungsprozess von Wissen erfahrbar, die unaufhörlich zwischen eindeutigen Zuschreibungen wie z.B. sichtbar/unsichtbar oder fremd/eigen pendelt. Sie treibt das Erzählen voran, indem sie alle im Text dargebotenen Meinungen und Wertungen in Frage stellt. Letztlich veranschaulicht dieses Ausagieren der Latenz die Ambivalenz jeglicher Form von Erzählen und Beschreiben. Besonders deutlich wird dies in Behrs Sammlung von Kurztexten The Hoot of the Owl (1904), die den Aussagehorizont wissenschaftlicher Erklärungen und damit auch die Glaubwürdigkeit des Wissenschaftsestablishments hinterfragt. Öffentlich diskutierte Forschungsergebnisse und Deutungsansprüche von Biologie, Ethnologie, Chemie, Archäologie, Geschichte und Psychologie werden gegeneinander ausgespielt und auf diese Bereiche zurückgehende populärwissenschaftliche Moden parodiert. Die Anspielungen auf die komplexen kulturellen Verflechtungen und die hybride Identität vieler Immigranten werden als Inszenierungen kritischen kulturellen Bewusstseins gedeutet: Sie bilden eine den Rahmen der German Americans-Tradition überschreitende Selbstanalyse und kulturelle Therapie im Zuge der Entstehung der multikulturellen US-Gesellschaft.
- Universität Wien - 100%
- Alan Corkhill, University of Queensland - Australien
- Wolfgang Hochbruck, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg - Deutschland
- Klaus R. Scherpe, Humboldt-Universität zu Berlin - Deutschland
- Jürgen Hein, Westfälische Wilhelms-Universität - Deutschland
- Karl Wagner, University of Zurich - Schweiz
- Thomas F. Daniel, California Academy of Sciences - Vereinigte Staaten von Amerika
- Werner Sollors, Harvard University - Vereinigte Staaten von Amerika
- Anselm Haverkamp, New York University - Vereinigte Staaten von Amerika
- Konrad H. Jarausch, University of North Carolina at Chapel Hill - Vereinigte Staaten von Amerika
Research Output
- 2 Publikationen
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2015
Titel Politische Erinnerung als Unterhaltung: Die 1848er-Revolution bei Hans Hermann Behr. Typ Book Chapter Autor Garstenauer W -
2013
Titel South Australia als Ort von Wissenstradierung und Selbstbefragung im Zeichen des Komischen bei Hans Hermann Behr. Typ Book Chapter Autor Garstenauer W