Wie entstanden komplexere Lebewesen auf der Erde? Das ist bis heute eines der größten Rätsel der Biologie. Christa Schleper ist der Antwort darauf einen Schritt nähergekommen. Der Mikrobiologin gelang es nämlich, winzige Einzeller zu kultivieren, die möglicherweise den Missing Link in der Evolution zu komplexen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren darstellen. Die Archaeen zählen zu den ersten Lebewesen auf der Erde und öffnen uns ein Fenster zu unserer eigenen Entwicklung. Gleichzeitig spielen sie eine entscheidende Rolle für unsere Zukunft.

Es donnert und kracht. Heftige Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge und Blitze. Enorme Hitze und radioaktive Strahlung treiben chemische Reaktionen voran: So stellt sich die Wissenschaft die Erde vor rund vier Milliarden Jahren vor. Aus Schwefel und Wasserstoff gehen erste chemische Verbindungen hervor. Wie in einem Kochtopf brodelt die Ursuppe vor sich hin. Vor ca. 3,8 Milliarden Jahren entstehen Bakterien und Archaeen. Sie leben zwischen Feuer und Asche. Während der folgenden drei Milliarden Jahre kühlt sich die Erde ab, Wasserdampf entsteht und Sauerstoff wird frei. Die Szenerie beruhigt sich. Aus den ursprünglichen Lebensformen entwickeln sich vor rund 2 Milliarden Jahren erste komplexere Zellstrukturen aus denen später die riesige Vielfalt der Pflanzen und Tiere hervorging. Die winzigen Einzeller haben den Nährboden für die Entwicklung allen weiteren Lebens gebildet. Wie dieser evolutionäre Übergang zu den ersten komplexeren Zellen gelang, ist bis heute nicht entschlüsselt.

Ein erster entscheidender Schritt zur Lösung des Rätsels gelang Ende der 1970er-Jahre dem US-amerikanischen Mikrobiologen Carl Woese: Er entdeckte, dass nicht alle Mikroorganismen zu den Bakterien gehören, sondern dass es eine zweite davon unabhängige Gruppe von Mikroorganismen gibt. Viele dieser winzigen Einzeller leben unter extremen Bedingungen: Manche fühlen sich in kochendem Schwefeldampf bei 100 Grad erst richtig wohl, andere leben in konzentrierten Salzlösungen oder in stark saurem Milieu. Wegen ihrer Vorliebe für archaische Standorte, die den Lebensbedingungen der Urerde gleichen, werden diese Lebenskünstler Archaeen genannt. Viele von ihnen gehören mit ihrer geringen Größe von 400 Nanometern (0,4 tausendstel Millimeter) zu den kleinsten Lebewesen auf unserem Planeten.

Mit dieser Entdeckung musste die Einteilung der Biologie neu geschrieben werden. Heute werden sämtliche Lebewesen auf der Erde in drei große Domänen eingeteilt: Eukaryoten, Bakterien und Archaeen. Zu den Eukaryoten zählen Tiere, Pflanzen, Protisten und Pilze. Ihre Zellen sind in der Regel größer und komplexer als Zellen von Bakterien und Archaeen. Sie verfügen über einen Zellkern, in dem das genetische Material verpackt ist, und ein Zytoskelett, auf dem sowohl die Zellform als auch der Transport innerhalb der Zelle basieren. 

In aller Kürze

Christa Schleper beschäftigt sich seit Beginn ihrer Laufbahn mit Archaeen – diese Mikroorganismen gehören zusammen mit Bakterien zu den ersten Lebewesen auf der Erde. Ihre Studien über Archaeen haben zu bahnbrechenden Entdeckungen geführt und unser Verständnis des Stickstoffkreislaufs verbessert. Ihre Erkenntnisse helfen, die Rolle der Mikroorganismen beispielsweise für eine nachhaltigere Landwirtschaft nutzen zu können.

Christa Schleper entnimmt eine Sedimentprobe aus der Donau
Sie zählen zu den ersten Lebewesen auf der Erde. Christa Schleper entdeckte Archaeen, die man bis dahin nur aus heißen Quellen und anderen unwirtlichen Orten kannte, erstmals in unserem alltäglichen Umfeld – wie hier in Sedimenten am Donauufer. Und sie fand heraus: Die Winzlinge spielen eine entscheidende Rolle sowohl für unsere Evolution als auch für unsere Zukunft. © Ulrich Zinell
Satellitenbild der Mündung des Mississippi mit Einfärbungen der Sedimente durch Phosphor und Stickstoff
Mündung des Mississippi River auf einem Satellitenbild von 1999. Durch den massiven Einsatz von künstlichem Dünger in der Agrarindustrie enthalten die Sedimente, die der Mississippi in den Golf von Mexiko spült, enorme Mengen an Phosphor und Stickstoff. Das lässt Algen explosionsartig wachsen, die Sauerstoff verbrauchen. So entstehen „Todeszonen“, wo kein höheres Leben mehr existieren kann. © Science Photo Library picturedesk

„Ohne die Archaeen gäbe es uns nicht. Je mehr wir von ihnen lernen, umso mehr verstehen wir unsere eigene Evolution.“

Aufgrund molekularer Studien und insbesondere der Genomforschung wusste man bereits, dass beide Gruppen, die Bakterien und Archaeen jeweils eine zentrale Rolle in der Entwicklung zu komplexeren, eukaryotischen Zellen gespielt haben müssen.  Archaeen und Bakterien haben sich bereits vor knapp vier Milliarden Jahren getrennt entwickelt. Viele Forschende gehen heute davon aus, dass sich nach etwa zwei Milliarden Jahren zwei Vertreter davon wieder vereinigt haben und dass sich aus dieser Symbiose eine eukaryotische Urzelle bildete, aus der sich schließlich Pflanzen und Tiere entwickelt haben. Der bakterielle Partner in dieser Symbiose ist bekannt (Alpha Proteobakterien waren die Vorläufer der heutigen Mitochondrien in eukaryotischen Zellen). Aber welche Archaeen waren an diesem wichtigen Ereignis beteiligt?

Ein Meilenstein auf der Suche nach diesem Missing Link gelang 2015 der Mikrobiologin Christa Schleper: Ihr Labor entnahm Proben aus 3.000 Metern Meerestiefe vor Norwegen nahe einem Hydrothermalfeld, die eine neue Archaeen-Art enthielten - die sogenannten Asgard-Archaeen. Dank der genetischen Marker konnte sie mit KollegInnen gemeinsam zeigen, dass diese heute lebenden Asgard-Archaeen die nächsten Verwandten der Eukaryoten sind und mit diesen einen gemeinsamen Vorfahren teilen.

Die Forschenden der Universität Wien konnten nun an vielen Orten ähnliche Archaeen finden, sogar im Ufersediment der Donau in Wien. Um Asgard Archaeen eingehender untersuchen zu können, war es aber notwendig, sie in größerer Anreicherung im Labor zu kultivieren. Was sich bei diesen extrem empfindlichen Organismen als äußerst schwierige und langwierige Feinarbeit herausstellte.

Zur Person

Christa Schleper ist Professorin am Department für Funktionelle und Evolutionäre Ökologie der Universität Wien. Sie studierte in Aachen und Konstanz Biologie, promovierte in München und forschte und lehrte in den USA (Caltech, UC Santa Barbara), Norwegen (Bergen) und Deutschland (Darmstadt). Seit Beginn ihrer Karriere beschäftigt sie sich mit Archaeen und war eine der Ersten, die metagenomische Methoden in ihrem Forschungsbereich einsetzten. Sie zählt zu den meistzitierten Forschenden der Welt. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt sie 2016 einen ERC Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates und 2022 den FWF-Wittgenstein-Preis.

Die Biologin Christa Schleper hat ihr Forschungsleben den Archaeen gewidmet – jenen winzigen Einzellern, die zu den ersten Lebewesen der Erde zählen. Die Wittgenstein-Preisträgerin 2022 hat nicht nur zahlreiche dieser Mikroorganismen entdeckt, sondern auch Pionierarbeit durch die Nachzüchtung im Labor geleistet.

Nach sechs Jahren „harter und frustrierender“ Arbeit dann der Erfolg: Die Gruppe um Schleper schafft es weltweit erstmals, eine hoch angereicherte, stabile Kultur von Asgard-Archaeen zu erzeugen, die aus Meeressedimenten an der Küste von Piran, Slowenien stammen. Das ermöglicht, die Zellen eingehend mit einem modernen Kryo-Elektronenmikroskop zu untersuchen. „Diese Archaeen bilden ganz neue Zellformen. Sie sind komplex und verwebt, haben teils sehr lange, Tentakel-ähnliche Fortsätze“, beschreibt die Wissenschaftlerin der Universität Wien die skurrilen Gebilde. Aber vor allem: Die Zellen haben ein Zytoskelett, also jene Struktur, die der eukaryotischgen Zelle ihre äußere Form gibt und für Bewegung sowie Transporte verantwortlich ist. Bisher war man davon ausgegangen, dass sich dieses erst in höheren Lebewesen entwickelt hat. „Auf diesem Gebiet wird es noch einige spannende Entdeckungen geben“, sagt die Professorin vom Department für Funktionelle und Evolutionäre Ökologie. Als die gebürtige Deutsche in den 1990er-Jahren begonnen hatte, Archaeen, die man bis dahin nur aus heißen Quellen und anderen unwirtlichen Orten kannte, mittels Metagenomik auch in unserem alltäglichen Umfeld zu suchen, war sie eine Pionierin.

Bereits 2005 gelang ihr dabei mithilfe der Metagenomik eine Entdeckung: In Bodenproben konnten Archaea in sehr großer Zahl gefunden werden, die eine wichtige Rolle im Stickstoffkreislauf übernehmen. Am einstigen Institutsstandort in Wien-Alsergrund gelang es ihrer Arbeitsgruppe wiederum, auch einen Vertreter dieser Archaeen im Labor zu züchten und zu studieren. Bei dem nach seinem Fundort benannten „Nitrososphaera viennensis“ handelt es sich um einen ammoniakoxidierenden Mikroorganismus der Nitrit bildet und damit eine wichtige Funktion im Stickstoffkreislauf einnimmt. „In natürlichen, unberührten Lebensräumen ist dieser Stickstoffkreislauf etwas Gesundes und Wichtiges. Problematisch wird er erst durch die Landwirtschaft“, erläutert die Mikrobiologin.

Im Schnitt wird nur 30 Prozent des in der Landwirtschaft eingesetzten Stickstoffs von den Pflanzen aufgenommen, der Rest wird ausgespült und landet in unserem Grundwasser, in Flüssen, Seen und Meeren. Mit fatalen ökologischen Folgen: Die hohe Stickstoffbelastung führt zu einem explosionsartigen Wachstum von Algen, die dabei Sauerstoff verbrauchen. Es entstehen „Todeszonen“, wo kein höheres Leben mehr existieren kann. Wie dramatisch die Entwicklung ist, zeigt eine soeben veröffentlichte Studie chinesischer Wissenschaftler:innen um Lei Liu: Der jährliche Eintrag von Ammoniak in die Ozeane sei 2018 um etwa 89 Prozent über dem von 1970 gelegen.

Für zwei Drittel der globalen Belastung mit reaktivem Stickstoff ist die Landwirtschaft verantwortlich. Während sich die globale Nahrungsmittelproduktion in den vergangenen vier Jahrzehnten verdoppelt habe, hat sich der Einsatz von synthetischem Stickstoffdünger verdreifacht. „Wenn wir Archaeen besser verstehen und ihre Aktivität regulieren können, brauchen wir hoffentlich in Zukunft weniger Dünger und können auch die Treibhausgasemissionen in Ackerböden reduzieren“, nennt Schleper das Ziel.

Mit ihrer Arbeit dem Umweltschutz zu dienen, ist der Forscherin ein besonderes Anliegen. So hält sie in Kooperation mit der „Fridays for Future“-Bewegung eine Ringvorlesung, mit der sie viele junge Menschen erreicht. „Alle Forschenden – aber vor allem wir, die wir an umweltrelevanten Themen arbeiten – stehen in der Verantwortung“, nennt Christa Schleper ihre Motivation und sagt: „Wir müssen noch lauter werden und uns trauen, über die Grenzen unserer Disziplinen hinaus zu kommunizieren um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen.“

Eine „Wald-und-Wiesen-Biologin, die schon immer Käfer gesammelt hat“ sei sie nie gewesen, lacht die heute 60-Jährige. Zur Biologie kam sie durch Zufall über eine Kommilitonin. Dann aber habe es sie gepackt und man spürt: Die Faszination hat sie bis heute nicht losgelassen. Auch der Weg zu ihrem Forschungsfeld war einem Zufall zu verdanken. Über einen Ferialjob am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München kommt die Biologiestudentin in die Gruppe eines Pioniers der Archaeen-Forschung – ein damals nahezu esoterisches Gebiet, wie Schleper sich erinnert, und kein boomendes Feld wie heute. Sie ist fasziniert von der offenen, diversen Arbeitsatmosphäre und bleibt dabei. Auch diese Entscheidung bezeichnet sie als einen Schlüsselmoment: die Erkenntnis, den richtigen Ort gefunden zu haben.

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