Rechtfertigungsdebatten über Nutztierhaltung in Deutschland
Justification Debates on Livestock Production in Germany
Wissenschaftsdisziplinen
Soziologie (100%)
Keywords
-
Sociology Of Critique,
Justifications,
Livestock Production,
Animal Welfare,
Economies Of Worth,
Social Change
Debatten über Nutztierhaltung, Tierschutz und Fleischkonsum haben sich in den letzten Jahren in vielen Ländern deutlich intensiviert. In diesen Debatten zeigen sich tiefgreifende soziale und kulturelle Spannungen. Einerseits sind Nutztierhaltung und tierische Produkte wesentliche Aspekte von eingeschliffenen Gewohnheiten, Traditionen und Identitäten. Andererseits wird die Nutztierproduktion zunehmend als moralisch bedenklich und als Quelle wichtiger sozialer Probleme wahrgenommen, darunter Klimawandel, Gesundheitsrisiken, schlechte Arbeitsbedingungen und Tierleid. In der Soziologie wurden diese Debatten bisher nicht systematisch untersucht. Das Projekt entwickelt daher neue theoretische und empirische Perspektiven auf öffentliche Kontroversen über Nutztierproduktion. Eine zentrale Annahme ist hierbei, dass die Entstehung, das Fortbestehen und die Intensivierung von Tierhaltungsdebatten nur angemessen verstanden werden können, wenn die vorgebrachten Argumente in ihrer Vielfalt ernst genommen werden. Nutztierhaltung kann auf ganz unterschiedliche Weise verteidigt oder kritisiert werden etwa mit Verweis auf religiöse Gefühle, Traditionen, wissenschaftliche Forschung, die Popularität von Lebensstilen, wirtschaftliche Zwänge, ökologische Folgen oder Tierrechte. Um diese Vielfalt zu erfassen, greift das Projekt auf die Soziologie der Kritik zurück und verknüpft sie mit Konzepten aus der historischen Soziologie und der Framing- Theorie. Empirisch analysiert das Projekt Konflikte um die Nutztierproduktion in Deutschland in den letzten 50 Jahren, indem es die öffentlichen Debatten um drei zentrale Gesetzesänderungen betrachtet (1972: Novellierung des Tierschutzgesetzes; 2002: Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz; 2023: Einführung eines staatlichen Tierhaltungslabels). Im Hinblick auf diese Debatten fragt das Projektteam, 1) welche Rechtfertigungsargumente in den ausgewählten Debatten von wem jeweils vorgebracht werden (synchrone Perspektive), 2) wie sich das Spektrum und die Bedeutung verschiedener Rechtfertigungen im Laufe der Zeit verändert hat (diachrone Perspektive) und 3) wie die Debatten durch breitere soziokulturelle Entwicklungen beeinflusst wurden (kontextuelle Perspektive). Das Forschungsmaterial stammt einerseits aus den parlamentarischen Prozessen, in denen die jeweiligen Gesetzesänderungen debattiert und beschlossen werden (Gesetzentwürfe, Parlamentsprotokolle, Stellungnahmen der Ausschüsse), andererseits aus den außerparlamentarischen Debatten, in denen sich etwa Wirtschaftsverbände, Expert:innen, NGOs oder soziale Bewegungen positionieren (Protokolle von öffentlichen Anhörungen, Pressemitteilungen, offene Briefe, Beiträge in sozialen Medien, Artikel in Mitgliederzeitschriften). Innovativ und weiterführend ist das Projekt, da es eine neue theoretische Perspektive auf Konflikte im Bereich der Nutztierproduktion entwickelt und eine systematische empirische Analyse eines besonders wichtigen und instruktiven Falles liefert.
- Universität Graz - 100%
- Wolfgang Knöbl, Hamburger Institut für Sozialforschung - Deutschland
- Eeva Luhtakallio, Helsinki University - Finnland