Das 1957 zugelassene Medikament Contergan, das zu Fehlbildungen bei Neugeborenen führte, ging als medizinische Katastrophe in die Geschichte ein. Heute zeigt sich, dass dem Mechanismus hinter der fatalen Wirkung der Schlüssel zu einer ganzen Klasse neuer Therapeutika innewohnt. Georg Winter vom CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin in Wien erforscht diese sogenannten Glue-Degrader, die krank machende Proteine gezielt ausschalten können. Im Spin-off-Unternehmen Proxygen wird der Ansatz in Richtung Medikamentenentwicklung weitergeführt – namhafte Pharmakonzerne sind bereits mit an Bord.

Im Lauf des Lebens sammeln sich viele genetische Mutationen in den Zellen des Körpers an – Veränderungen, die fatale Folgen haben können. Die mutierten Gene können dafür sorgen, dass neue Proteine entstehen, die das empfindliche Gleichgewicht der Zelle stören: Sie aktivieren fälschlicherweise Signale oder unterbinden sie. Sie fördern die Zellteilung oder verhindern, dass Zellen absterben. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Krebserkrankung.

Es bestehen zwar zelluläre Systeme, um fehlerhafte Proteine zu eliminieren. Sogenannte E3-Ubiquitin-Ligasen sind Teil eines zellulären Recyclingsystems. Sie erkennen Proteine mit „Baumängeln“ und markieren sie für eine gezielte Zerstörung. Doch die krebserregenden Proteine, die auf mutierten Genen beruhen, werden meist nicht erkannt. Ein vielversprechender Ansatz in der Medizinforschung setzt genau hier an. Er versucht bei der Markierungsarbeit nachzuhelfen, damit die außer Kontrolle geratenen Proteine dennoch als fehlerhaft erkannt und abgebaut werden.

Ein Wissenschaftler, der seit Jahren die Grundlagenforschung in diesem Bereich prägt, ist Georg Winter. Er war unter anderem an der US-Universität Harvard tätig, bevor er als Gruppenleiter am CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin wesentliche Fortschritte bei einer besonders effizienten Form dieser künstlichen Markierungen erzielen konnte: den sogenannten Glue- Degradern. Der „molekulare Klebstoff“ sorgt dafür, dass ein krank machendes Protein sehr gezielt mit einer geeigneten E3-Ligase zusammengebracht und für den Abbau markiert wird. Das Potenzial für künftige Therapien von Krebs und vielen anderen schwerwiegenden Krankheiten ist enorm.

In aller Kürze

Georg Winter erforscht neuartige Strategien, um krank machende Proteine gezielt abzubauen. Im Fokus stehen dabei sogenannte Glue-Degrader – kleine Moleküle, die wie ein molekularer Klebstoff wirken und krankhafte Proteine zur Zerstörung durch zelluläre Abbaumechanismen markieren. Dadurch sollen neue Therapieansätze gegen Krebs und weitere schwerwiegende Erkrankungen möglich werden. Das von Winter mitgegründete Start-up Proxygen, das Kandidaten für die Entwicklung neuer Therapeutika identifiziert, zählt zu den Pionieren in diesem jungen Feld der Medikamentenentwicklung. Hoch dotierte Kooperationen mit internationalen Pharmakonzernen zeigen das Potenzial des Ansatzes und verleihen dem Life-Science-Standort Wien neuen Rückenwind.

Georg Winter im Porträt
Von der akademischen Forschung über die Gründung eines Spin-offs hin zu einer wissenschaftlichen Leitungsfunktion: Georg Winter, Scientific Director Life Sciences des AITHYRA-Instituts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften © ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Schwarz-Weiss-Grafik eines Chamäleons mit der Aufschrift "THE ART OF Glue HUNTING"
Mit dem Wissen aus der Grundlagenforschung neue medizinische Therapien entwickeln: Proxygen, ein Spin-off des CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, basiert auf wissenschaftlichen Vorarbeiten in FWF-Projekten des Molekularbiologen Georg Winter. © www.proxygen.com

„Solche Kooperationen sind förderlich, weil sie zeigen, dass österreichische Firmen aus dem lokalen Biotop herauswachsen und global mitspielen können“

Milliardenschwere Entwicklungskooperation

Die Forschungserfolge führten im Jahr 2020 zur Gründung des Wiener Start-ups Proxygen, das Winter gemeinsam mit Matthias Brand, Stefan Kubicek und Giulio Superti-Furga aus der Taufe hob. Hier widmen sich die Forschenden der systematischen Suche nach diesen Glue-Degradern. Der Entwicklungsansatz hat bereits zu vielversprechenden Ergebnissen geführt, die Proxygen gemeinsam mit namhaften Partnern weiterentwickelt. Neben Kooperationen mit den Arzneimittelherstellern Boehringer Ingelheim und Merck in Deutschland sorgte 2023 die Bekanntgabe einer 2,3 Milliarden Euro schweren Zusammenarbeit mit dem US-Pharmakonzern MSD für Aufsehen.

„Solche Kooperationen sind förderlich, weil sie zeigen, dass österreichische Firmen aus dem lokalen Biotop herauswachsen und global mitspielen können“, betont Georg Winter in einem Interview mit scilog, dem Wissenschaftsmagazin des FWF. Der CeMM-Forscher und Proxygen-Mitgründer trat inzwischen eine weitere zentrale Rolle in der heimischen Medizinwissenschaft an. Im April 2025 übernahm er die biomedizinische Institutsdirektion von AITHYRA, dem Forschungsinstitut für KI in der Biomedizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Forschungserfolge in Harvard

Das Fundament für diese Laufbahn legte Winter bereits in seiner frühen Forschung. Er promovierte an der Medizinischen Universität Wien und forschte dabei am CeMM zu zellulären Wirkmechanismen und Resistenzen gegen Krebsmedikamente. In seiner Postdoc-Phase am Dana-Farber Cancer Institute der Harvard Medical School tauchte er bereits in das Forschungsfeld der Degrader ein. Hier stand allerdings noch ein anderer Typus im Vordergrund als in seiner späteren Arbeit – sogenannte PROTACs. Sie können gleichzeitig an das Zielprotein und die Abbaumaschinerie andocken und sie zusammenbringen, weil sie für jeden der beiden Interaktionspartner jeweils eine maßgeschneiderte Bindungsstruktur haben.

Eine Arbeit von Winter und Kolleg:innen aus dem Jahr 2015 gilt als Meilenstein in der praktischen Anwendbarkeit dieser Wirkstoffe. Im Fachjournal Science konnten sie erstmals zeigen, dass PROTACs in lebendigen Organismen wirksam sind. „In einer Proof-of-Concept-Studie zeigten sie den selektiven Abbau eines Transkriptions-Coaktivators namens BRD4 und konnten damit das Fortschreiten von Leukämie bei Mäusen verlangsamen“, fasste Science damals zusammen. Die damaligen Forschungsergebnisse mündeten in der Gründung des – mittlerweile börsennotierten – US-Start-ups C4 Therapeutics, das ebenfalls auf den gezielten Abbau krank machender Proteine fokussiert.

Zur Person

Georg Winter ist Adjunct Principal Investigator am CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin in Wien sowie Leiter der Forschungsgruppe zur „Chemical Biology of Oncogenic Gene Regulation“. Er arbeitete während seiner Dissertation bereits am CeMM und wechselte dann an das Dana-Farber Cancer Institute der Harvard Medical School in den USA, wo er an wegweisenden Arbeiten zum zielgerichteten Abbau von Proteinen beteiligt war. Ab 2016 baute er, unterstützt von mehreren Projektfinanzierungen des Wissenschaftsfonds FWF, seine Forschungsgruppe am CeMM auf, die sich der Erforschung sogenannter Glue-Degrader – spezielle Wirkstoffe zum Proteinabbau – widmet. 2020 wurde er zum Co-Gründer des Spin-offs Proxygen, das systematisch nach diesen Wirkstoffen sucht. 2025 übernahm Winter zudem die Funktion des Scientific Director Life Sciences am AITHYRA, dem Research Institute for Biomedical Artificial Intelligence der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Georg Winter zwischen abgerundeten Regalen mit einem Heft in der Hand
„Mit jedem Erfolgsmodell, das in Wien oder Österreich hinzukommt, wird der Standort für kompetente Menschen attraktiver“, sagt Georg Winter. © Christian Hofer

Effiziente Lösung, aber schwierig auffindbar

2016 kam Winter als Projektleiter zurück ans CeMM in Wien. Hier fokussierte er mit einer neu aufgebauten Arbeitsgruppe auf ein Feld, das im Vergleich zu den PROTACs noch wenig erforscht war – die Glue-Degrader. Sie haben einen entscheidenden Vorteil: Anders als PROTACs müssen sie keine Bindungsstellen für beide involvierten Elemente haben, da sie lediglich an der E3-Ligase wirken, um die Bindungsfähigkeit dort gezielt zu verändern. Der Haken bei dieser sehr effizienten Lösung, die mit kleinen Molekülen auskommt, die im Gegensatz zu den oft großmolekularen PROTACs eine deutlich bessere orale Bioverfügbarkeit aufweisen: Glue-Degrader sind extrem schwer zu finden.

Bisher wurden sie vor allem per Zufall entdeckt – einmal auch erst im Nachklang einer medizinischen Katastrophe. Ein Wirkstoff namens Thalidomid, der 1957 in Deutschland als das rezeptfreie Schlafmittel Contergan auf den Markt kam, führte bei der Einnahme während der Schwangerschaft zu Missbildungen bei Neugeborenen. Erst vor wenigen Jahren konnte der verhängnisvolle Wirkmechanismus im Detail enttarnt werden. Es stellte sich heraus, dass Thalidomid die Funktion eines Glue-Degraders hat. Er bindet an bestimmte E3-Ligasen und bringt sie dazu, spezifische Proteine abzubauen, die wichtig für die frühe embryonale Entwicklung in der Schwangerschaft sind – mit den Missbildungen als Ergebnis.

Werkzeug für die Wirkstoffsuche

Mit der neu gewonnenen Einsicht war der Grundstein für die neue Wirkstoffklasse gelegt. Das Ziel war nun, Moleküle zu identifizieren, die sich spezifisch – und ausschließlich – gegen ausgewählte krank machende Proteine richten. Winter und sein Team am CeMM erweiterten das Wissen um verschiedene Arten von Glue-Degradern sowie Möglichkeiten ihrer Charakterisierung beträchtlich. „Zum Beispiel konnten wir 2019 in einer Publikation zeigen, dass es einen genetischen Schalter gibt, mit dem sich 300 der insgesamt etwa 600 E3-Ligasen auf einmal ein- bzw. ausschalten lassen“, erklärt Winter in scilog. „2020 folgte dann eine Publikation, in der wir beschrieben haben, wie man diesen Mechanismus für die Suche nach Molecular Glues verwenden kann.“

Diese Ergebnisse sowie die einhergehenden Patente gaben das Fundament, auf dem Proxygen schließlich seine Methodik der gezielten Jagd nach neuen Glue-Degradern aufbaute. Neben einem ERC Grant wurde diese wirkungsstarke Grundlagenforschung zwischen 2016 und der Unternehmensgründung 2020 unter anderem mit drei Projektfinanzierungen durch den Wissenschaftsfonds FWF ermöglicht. Proxygens Forschungsplattform birgt damit das Potenzial, völlig neue Angriffspunkte für verschiedenste Krankheiten zu erschließen. Proteine, die sich als ungeeignet für konventionelle Wirkstoffansätze erwiesen, können so vielleicht doch noch adressiert werden.

Das CeMM-Spin-off ist heute eines der erfolgreichsten Life-Science-Start-ups Österreichs. Die namhaften Kooperationen tragen etwa dazu bei, Wien auf der Landkarte der weltweiten Biotech-Hotspots sichtbarer zu machen. „In Wien gibt es zwar talentierte junge Menschen, aber viele sind in der Biotech-Branche noch unerfahren“, resümiert der Proxygen-Gründer im scilog-Interview. „Mit jedem Erfolgsmodell, das in Wien oder Österreich hinzukommt, wird der Standort für kompetente Menschen attraktiver, um den Schritt zu wagen und hier Wurzeln zu schlagen.“

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