Zur "poetischen Intensität" von Friederike Mayröckers Lyrik
On the "Poetic Intensity" of Friederike Mayröcker´s Lyrical Poetry
Wissenschaftsdisziplinen
Kunstwissenschaften (10%); Philosophie, Ethik, Religion (15%); Psychologie (10%); Sprach- und Literaturwissenschaften (65%)
Keywords
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Friederike Mayröcker,
Friedrich Hölderlin,
Contemporary Lyrical Poetry,
Literary Intensity Studies
Ziel der Arbeit ist eine umfassende Studie zum lyrischen Werk der österreichischen Autorin Friederike Mayröcker (*1924), sowie dessen Neuperspektivierung im Lichte der literaturwissenschaftlichen Intensitätsforschung. Entgegen der verbreiteten sog. Modernitätsthese, der zufolge moderne Lyrik auf den Ausdruck von Gefühl verzichte und ihm das formale Experiment entgegensetze (Winko 2003), soll in der projektierten Arbeit gezeigt werden, dass in Mayröckers Gedichten der Ausdruck von Gefühlen und das formale Experiment einander keineswegs ausschließen, dass sie vielmehr hochemotionell und hochartifiziell zugleich sind. Ausgegangen wird von der These, dass die außerordentliche poetische Intensität ihrer Lyrik aus der sprachlichen Transformation multipler Intensitäten hervorgeht. Ziel der Arbeit ist es, die formale und inhaltliche Komplexität der Gedichte zu analysieren und sie als Ausdruck einer intensiven Lebenshaltung (Mayröckers berühmter poetischer Existenz) zu beschreiben. Gezeigt werden soll die Relevanz der Form (der hochartifiziellen Kodierung) für die Repräsentation intensiver äußerer und innerer Wahrnehmungen (Emotionen, Gedanken, Sinneswahrnehmungen). Ein weiteres Ziel der Arbeit wird es sein, Mayröckers Lyrik innerhalb der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik zu positionieren und dabei die Einzigartigkeit dieser Dichtung zu beschreiben. Auch soll gezeigt werden, dass Mayröckers Einfluss auf andere Dichterkolleginnen und kollegen vor allem über ihre Lyrik läuft. Um die Bedeutung des Konzepts der Intensität als Analysekriterium für Mayröckers Lyrik plausibel zu machen, ist es nötig, die Gedichte im Kontext der geisteswissenschaftlichen Intensitätsdiskurse zu sehen. Dazu fragt die Arbeit zunächst nach historischen Intensitätskonzepten, mit denen Mayröckers Poetik verbunden ist. Hier wird es vor allem Hölderlins Poetik der Intensität sein, deren Bedeutung herausgestrichen werden soll. Gefragt wird danach, inwiefern und auf welche Weise Mayröcker als Hölderlin-Erbin gesehen werden kann, inwiefern sie aber auch in einer Traditionslinie mit anderen Dichtern wie etwa Georg Trakl oder Paul Celan steht. Darüber hinaus soll das Projekt deutlich machen, dass Mayröcker auch die literarische Produktion sowie die literatur- und kunsttheoretische Debatten ihrer eigenen Zeit umfassend rezipiert, wobei zu zeigen ist, dass ihr Interesse sich sehr häufig an dem entzündet, was in dieser Arbeit ästhetische Intensität genannt wird. Für die Analyse und Kontextualisierung der einzelnen Gedichte wird es in methodischer Hinsicht nötig sein, die literaturwissenschaftliche mit anderen wissenschaftlichen Perspektiven zu verknüpfen, insbesondere mit der psychologischen. Gerade im Bereich der psychologischen Intensitätsforschung wurden in den vergangenen Jahrzehnten interessante Beschreibungs- und Erklärungsmodelle entwickelt, die für eine neue Mayröcker-Lektüre fruchtbar gemacht werden können. Die Entwicklung einer interdisziplinär ausgerichteten analytischen Instrumentariums gehört demnach zu den vorrangigen Zielen der Arbeit. Da zu Mayröckers charakteristischen Emotionswörtern auch die Tiere gehören, werden ihre Tier-Gedichte auch im Lichte der interdisziplinär angelegten Cultural and Literary Animal-Studies neu perspektiviert. Schließlich versteht sich die Arbeit auch als Beitrag zur aktuellen Debatte um eine Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, die das Verhältnis von Literatur und ethischem Wissen reflektiert.
Das Projekt entwickelt eine Theorie der lyrischen Intensität als literarischer Denkfigur und als Kategorie wissenschaftlicher Textbeschreibung. Vor dem Hintergrund ihrer Genese aus den Naturwissenschaften sowie verschiedener Erklärungsmodelle (aus Philosophie und Neuropsychologie) wurde ein interdisziplinärer Katalog an Kriterien erstellt, anhand derer das Phänomen Intensität an lyrischen Texten erfasst und analysiert werden kann. Um möglichst differenzierte Kriterien zu formulieren, wurde der ursprünglich anvisierte Rahmen des Projekts dahingehend erweitert, dass nicht mehr nur Gedichte von Friederike Mayröcker als Basis der Analyse herangezogen wurden, sondern auch Gedichte von Hölderlin, Georg Trakl und Paul Celan. Allen Texten ist eine gewisse Dunkelheit eigen, d.h. eine lyrische Sprache, die sich einem raschen Verständnis entzieht. Entstanden im 18. Jahrhundert als physikalischer Begriff, entwickelte sich Intensität rasch zum Beschreibungsmodell für gleitend sich verändernde Phänomene. Im Besonderen sind es Emotionen und seelischen Zustände, die sich in einem steten Prozess der Wandlung befinden. Für die Philosophen Gilles Deleuze (1925 1995) und Félix Guattari (1939 - 1992) etwa impliziert Intensität ein unerschöpfliches virtuelles Potential, das vielfältige Transformationen ermöglicht. Wie, so fragten sie sich, sei reine sprachliche Intensität erfahrbar? Ihre Antwort darauf lautet: Indem sich die Sprache deterritorialisiere, könne sie Fluchtlinien aufzeigen, die aus der Repräsentation, den fixierten Bedeutungen und den vorgefertigten Meinungen hinausführen. Ein deterritorialisierender Gebrauch von Sprache bricht deren signifikante und metaphorische Schichten auf und legt die darunterliegende reine Intensität frei, nämlich unerwartete Möglichkeiten von Sinn-Anschlüssen. Hölderlins modulierendes Sprechen etwa entspricht seinem intensitätsbasierten, integrierenden Denken. Die poetische Vollendung besteht für Hölderlin einerseits in der konstanten Modulation synchroner Töne (Grundhaltungen), andererseits in deren Engführung zu einem neuen, höheren Ganzen. Vor dem Hintergrund aktueller neuropsychologischer Erkenntnisse zum Phänomen der Wahrnehmungsbegabung bzw. Wahrnehmungssensibilität werden etwa Gedichte von Georg Trakl als Ausdruck der multiplen (sensorischen, imaginativen, intellektuellen und emotionellen) Hochbegabung des Autors verständlich. Die Texte spiegeln die aufs äußerste gesteigerte Wahrnehmungsintensität des Dichters wider, welche ihm (mehr als anderen) die Schönheit der Welt, aber auch das omnipräsente Grauen vor Augen führte. In einer Art poetischem Multiplexverfahren werden hochdifferenzierte, scheinbar widersprüchliche äußere und innere Wahrnehmungen zusammengeführt. Die für Mayröckers Poetik typischen Gedankenfragmente, ihre rational nicht aufzulösenden Assoziationsketten werden als zeitgenössische Varianten eines dunklen Sprechens gelesen. Celans Konzept der kongenitalen Dunkelheit des Gedichts wird bei Mayröcker zu einem kongenitalen Außer- Sich-Sein des lyrischen Ich. Aus der Analyse der heterogenen Gedichte kristallisierten sich u.a. folgende Aspekte zu Kriterien für die Beschreibung lyrischer Identität: besonders kühne Sprachbilder und bewegungen, die Spannung aufbauen; Differenz erzeugende Modulationen; der deterritorialisierte Gebrauch von Sprache; Dunkelheit des Ausdrucks aufgrund der Gleichzeitigkeit disparater Wahrnehmungen; Aspekte des Werdens (Deleuze) wie Intensiv-Werden, Tier-Werden, Ding-Werden, Unpersönlich- und Unwahrnehmbar- Werdens; die Kategorie des Dazwischen (Metaxy), d.h. Nachbarschaftszonen zwischen Sprechen und Schweigen, Sagbarem und Unsagbarem, Ich und dem Anderen, Leben und Tod, Tag und Nacht, Nüchternheit und Ekstase.
- Universität Innsbruck - 100%
Research Output
- 3 Zitationen
- 21 Publikationen
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2021
Titel "Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich / Hemmt die erstaunende Nacht nun immer". Die Darstellung von Schmerz und Verzweiflung in Hölderlins Ode "Chiron" Typ Journal Article Autor De Felip E. Journal Studia Germanica Gedanensia Seiten 99 - 115 Link Publikation -
2021
Titel Metaphern gegen den Tod. Friederike Mayröckers ekstatische Trauergedichte; In: XXI. Congress of the ICLA - Proceedings, Bd. 4: The Rhetoric of Topics and Forms Typ Book Chapter Autor De Felip E. Verlag Walter de Gruyter Seiten 29‒39 -
2020
Titel Voneinander eine zarte, sorgsame Sprache lernen. Peter Waterhouse "Die Auswandernden" (2016) Typ Journal Article Autor De Felip E. Journal Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik Seiten 101-117 -
2020
Titel Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie Typ Book Autor Arteel I. editors Arteel I., De Felip E. Verlag J. B. Metzler -
2020
Titel "von der nassen Papiermanschette des Mondes". Die Intensität der verborgenen Dinge bei Friederike Mayröcker; In: Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie Typ Book Chapter Autor De Felip E. Verlag J. B. Metzler Seiten 229‒252 -
2020
Titel Wenn die Augen und die Dinge übergehen: die gemeinsamen Bilderbücher von Friederike Mayröcker und Angelika Kaufmann; In: Übergänge: Verzweigte Wege in und zur Kinder- und Jugendliteratur Typ Book Chapter Autor De Felip E. Verlag Studien Verlag Seiten 33‒53