Viele bunte Spielfiguren auf einem weißen Spielfeld
Das Programm Top Citizen Science steht Forschenden offen, die Bürger:innen aktiv in den Forschungsprozess einbinden. © Pexels Pixabay

Die Einbindung von Bürger:innen in Forschungsprojekte im Programm Top Citizen Science ist mehr als eine symbolische Geste: Das Engagement fachfremder Personen ist eine Bereicherung, und einige Projekte wären ohne ihre Einbindung gar nicht durchführbar. „Gemeinsames Forschen von fachlichen Lai:innen und Wissenschaftler:innen erfordert auf beiden Seiten Kompetenzen, die wir mit der Förderschiene Top Citizen Science gezielt stärken“, sagt Christof Gattringer, Präsident des FWF.

In diesem Jahr fördert der FWF sechs Top-Citizen-Science-Projekte. Das Fördervolumen beträgt knapp 300.000 Euro; von der Medizin über Pflegewissenschaften, Soziologie, Informatik, Geowissenschaften und Geschichte bzw. Archäologie sind natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen vertreten. Die diesjährige Förderrunde ist gemessen an der Anzahl der Projekte und am Fördervolumen die größte seit der Etablierung des Programms im Jahr 2015.

Um Kooperationen auf einem sehr hohen akademischen Niveau zu ermöglichen, sind alle Top- Citizen-Science-Projekte Teil eines vom FWF geförderten Basis-Forschungsprojekts und ergänzen dieses.

Von Schüler:innen über die Bewohner:innen eines Pflegeheims bis zur lokalen Bevölkerung in zwei alpinen Tälern sind in diesem Jahr Personen aus vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen als Citizen Scientists an den Projekten beteiligt. Von diesen wissenschaftlich tätigen Bürger:innen wird einiges verlangt: Sie werden Expertise und Wissen zur Verfügung stellen, sich mit der neuesten AI matchen, Daten erheben, Fotos machen und Forschungsergebnisse interpretieren. „Von den Kooperationen sollen die Beteiligten und die einzelnen Forschungsprojekte profitieren; ebenso hoffen wir, einen Beitrag zur Verbreitung von wissenschaftlichem Wissen und wissenschaftlichen Methoden zu leisten“, so Gattringer.

Die aktuellen sechs Projekte werden zwei Jahre lang dauern. Einreichungen für die nächste Förderrunde des Programms Top Citizen Science sind bis zum 8. April 2024 möglich.

Über Top Citizen Science

Top Citizen Science fördert Forschungsaktivitäten, die eine Beteiligung von Bürger:innen ermöglichen, die zu einem substanziellen, zusätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen. Die wissenschaftliche Qualität der Top-Citizen-Science-Projekte wird durch ein zugehöriges FWF-Forschungsprojekt („Basisprojekt“) sichergestellt, das bis zur Förderentscheidung (Oktober des Einreichjahres) noch nicht abgeschlossen ist. Ein Top- Citizen-Science-Projekt kann maximal 24 Monate umfassen und eine Förderung von maximal 100.000 Euro erhalten. Die Entscheidung über die Förderung als Top-Citizen-Science-Projekt trifft das Kuratorium des FWF auf Grundlage einer internationalen Begutachtung.

Die Top-Citizen-Science-Projekte 2024–2025 im Einzelnen

Virus Surveillance in Zusammenarbeit mit Schüler:innen

Andreas Bergthaler leitet das Projekt „Virus Surveillance in Zusammenarbeit mit Schüler:innen“.

Nachhaltige gesunde Ernährung im Pflegeheim (SUNRISE)

Doris Eglseer beschäftigt sich in ihrem Projekt aus dem Förderschwerpunkt „Sustainable Food Systems“ mit nachhaltiger gesunder Ernährung im Pflegeheim.

CS4SEHAG

Norbert Pfeifer arbeitet für das Projekt SEHAG, in dem Effekte des Klimawandels in den Alpen erforscht werden, mit Citizen Scientists zusammen.

Klassifikation von Dialekten durch Mensch und Maschine

Michael Pucher beschäftigt sich mit der Klassifikation von Dialekten durch künstliche Intelligenz.

Rassismen verstehen

Elisabeth Scheibelhofer bindet Akteur:innen mit Migrationshintergrund in ihr Forschungsprojekt ein, um Rassismen zu verstehen.

Communities Intertwined – Visualising Inscribed Space

Andreas Zajic möchte mit seinem Projekt „Communities Intertwined – Visualising Inscribed Space“ mit Hilfe der Bevölkerung Inschriften an Häusern erforschen.

Virus Surveillance in Zusammenarbeit mit Schüler:innen

Virus Surveillance in Zusammenarbeit mit Schüler:innen
Porträt von Andreas Bergthaler
Andreas Bergthaler leitet das Projekt „Virus Surveillance in Zusammenarbeit mit Schüler:innen“. © Franzi Kreis

Dieses Citizen-Science-Projekt findet an einem besonders spannenden Ort statt: der Schule. Eine Schule hat alles, was Viren brauchen, um sich gut zu verbreiten, vor allem viele Menschen auf engem Raum. Während des mehrmonatigen Projekts werden Forschende gemeinsam mit Schüler:innen ein transdisziplinäres Forschungsprojekt aufsetzen, um der Übertragung und Verbreitung von Viren über die Luft noch genauer auf die Spur zu kommen. Die Wissenschaftler:innen bringen medizinische, epidemiologische und soziologische Forschungsexpertise und -erfahrung mit, die Schüler:innen Neugier und Unvoreingenommenheit. „Die Schüler:innen sind als unsere Kooperationspartner:innen sehr intensiv in den ganzen Prozess eingebunden“, sagt Andreas Bergthaler, Virologe an der MedUni Wien, der das Projekt leitet. „Das bedeutet, dass wir gemeinsam das Forschungsdesign entwickeln, die Experimente konzipieren, die Luftfilter aufstellen, die Proben gemeinsam erheben und auswerten usw. Am Ende sind die Schüler:innen auch Co-Autor:innen der Publikation.“ Da das Projekt transdisziplinär ist, werden auch sozialwissenschaftliche Methoden Anwendung finden, um die sozialen Bedingungen zu untersuchen, die epidemiologisch relevant sind. Und das Projekt ist noch in einer weiteren Hinsicht außergewöhnlich: Es macht sich selbst zum Gegenstand der Forschung. Die Ergebnisse werden zudem in den vorwissenschaftlichen Arbeiten der Schüler:innen verarbeitet. Ob später alle jugendlichen Teilnehmer:innen eine wissenschaftliche Karriere beginnen, ist zweitrangig: „Bei solchen Projekten geht es letztlich um die Kommunikation mit der nächsten Generation“, sagt Bergthaler. „Ganz unabhängig vom Thema möchten wir vermitteln, wie Wissenschaft funktioniert und wie man mit komplexen Fragestellungen umgeht. Das ist meiner Überzeugung nach von allgemeiner Wichtigkeit für die Gesellschaft, nicht nur, um wissenschaftlichen Nachwuchs für die Forschung zu interessieren.“

Projektleitung

Andreas Bergthaler

Forschungsstätte

Medizinische Universität Wien

Disziplinen

Gesundheitswissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften

Fördervolumen

49.206 €

Nachhaltige gesunde Ernährung im Pflegeheim (SUNRISE)

Nachhaltige gesunde Ernährung im Pflegeheim (SUNRISE)
Porträt von Doris Eglseer
Doris Eglseer beschäftigt sich in ihrem Projekt aus dem Förderschwerpunkt „Sustainable Food Systems“ mit nachhaltiger gesunder Ernährung im Pflegeheim. © Sandra Klein

Kaum jemand, der oder die sich nicht gern gesund und klimagerecht ernähren würde. Doch was sind die Gründe, die Wunsch und Wirklichkeit gerade beim Essen so weit auseinanderklaffen lassen? In SUNRISE – einem Projekt aus dem Förderschwerpunkt „Sustainable Food Systems“ – wird diese Frage von den Bewohner:innen und Mitarbeiter:innen eines Pflegeheims erforscht. Sie werden mittels Fotos festhalten, was ihnen im Alltag an Beispielen für eine gelungene nachhaltige Ernährung und ebenso an Beispielen für eine nichtnachhaltige Ernährung begegnet. In einem zweiten Schritt werden die Teilnehmenden Interviews führen, um von Kolleg:innen und Mitbewohner:innen mehr zu erfahren. Diese Daten werden von den Teilnehmer:innen und Wissenschaftler:innen gemeinsam ausgewertet. Am Ende des zweijährigen Projekts soll ein Leitfaden stehen, der dabei hilft, Ernährung in Pflegeheimen nachhaltiger zu gestalten. „Durch die Zusammenarbeit und die Forschung der Bewohner:innen und Mitarbeiter:innen werden wir eine ganz neue Sicht auf Nachhaltigkeit entdecken und Mechanismen auf die Spur kommen, die wir sonst übersehen“, sagt Doris Eglseer von der Medizinischen Universität Graz, die das Projekt leitet. „Es ist eine große Chance für die Forschung.“ Das Projekt SUNRISE vervollständigt das Forschungsprojekt „Opinion Lab“ (Open Innovation Nursing Lab), bei dem es um die Verbesserung der Lebensqualität in Pflegeheimen geht. „Schon bei diesem Projekt war der Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit beim Essen ein ganz wichtiges Thema für die Bewohner:innen. Viele würden gern mehr tun, um zum Beispiel Abfälle zu reduzieren“, erzählt Eglseer. „Leitfäden aus der Wissenschaft gibt es bereits, mit entsprechend geringem Erfolg. Ich bin überzeugt, dass ein Leitfaden, der aus der Praxis kommt, sehr viel höhere Chancen auf Umsetzung hat.“ Die Diätologin und Pflegewissenschaftlerin ist sich außerdem sicher, dass in den Pflegeheimen sehr viel Wissen über Nachhaltigkeit brachliegt. „Es leben und arbeiten dort viele Generationen unter einem Dach, Menschen, die Kompetenzen und Wissen haben, das für die Wissenschaft und eben auch für eine nachhaltigere Zukunft sehr wichtig sein kann.“ Das Förderangebot Sustainable Food Systems ist Teil einer Initiative mit der austria wirtschaftsservice (aws) und wird vom Fonds Zukunft Österreich finanziert.

Projektleitung

Doris Eglseer

Forschungsstätte

Medizinische Universität Graz

Disziplin

Gesundheitswissenschaften

Fördervolumen

49.943 €

CS4SEHAG

CS4SEHAG
Porträt von Norbert Pfeifer
Norbert Pfeifer arbeitet für das Projekt SEHAG, in dem Effekte des Klimawandels in den Alpen erforscht werden, mit Citizen Scientists zusammen. © privat

Das Akronym CS4SEHAG steht für „Citizen Science for SEHAG“ (Sensitivität hochalpiner Geosysteme gegenüber dem Klimawandel seit 1850) und ist so anspruchsvoll, wie es klingt. Im Projekt SEHAG untersuchen internationale Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen gemeinsam die Effekte des Klimawandels in den Alpen, um die Veränderungen seit der Industrialisierung zu rekonstruieren und möglichst genaue Prognosen für die zukünftige Entwicklung abgeben zu können. Eine besondere Rolle spielt dabei die Photogrammetrie, mit deren Hilfe aus unterschiedlichen bildlichen Aufnahmen Erkenntnisse zu den Veränderungen der alpinen Regionen gewonnen werden können. In SEHAG werden dafür unter anderem historische Fotos, Aufnahmen aus der Luft (Flugzeug und Drohnen), aber auch flächendeckende Laser-Scans verwendet. Trotz dieser Vielzahl an Methoden bestehen noch Lücken in der Beobachtung aktueller Veränderungen. Diese sollen nun im Projekt CS4SEHAG mit Hilfe von Citizen Scientists geschlossen werden: „Die Auswirkungen der Veränderungen, die durch den Klimawandel passieren, sind oftmals sehr lokal und nicht so offensichtlich. Wir hoffen daher, mit Hilfe der lokalen Bevölkerung diese zeitnah zu dokumentieren“, sagt Norbert Pfeifer, der als Leiter des Forschungsbereichs Photogrammetrie der TU Wien an SEHAG beteiligt ist und auch CS4SEHAG leitet. Im Citizen-Science-Projekt ist die Bevölkerung von zwei alpinen Tälern, dem Kaunertal (Österreich) und dem Martelltal (Italien), in den kommenden zwei Sommern eingeladen, mit dem Smartphone Aufnahmen von ihrem Umfeld zu machen und mit den Forschenden zu teilen. „Die Verbundenheit der Menschen mit ihren Tälern und ihr lokales Wissen sind für uns sehr wertvoll“, sagt Sebastian Mikolka-Flöry, der im Projekt unter anderem für die Auswertung der visuellen Daten zuständig ist. „Je mehr Fotos wir bekommen, desto besser ist es.“ Bei der Auswertung der Fotos werden die genaue Position als auch Ausrichtung der Kamera berechnet und gemeinsam mit den anderen Datensätzen ausgewertet, um die Veränderungen möglichst genau und möglichst lückenlos zu dokumentieren. „Oftmals sind es die Bürger:innen vor Ort, die uns auf gewisse Veränderungen vor Ort hinweisen. Durch das CS4SEHAG-Projekt können wir ihnen ein Werkzeug in die Hand geben, diese Beobachtungen zu dokumentieren und zu teilen. Ich hoffe, dass wir insbesondere durch den historischen Vergleich einen Aha-Effekt hervorrufen, weil dann plötzlich das Ausmaß der Veränderungen sichtbar ist, auch für die Menschen, die vor Ort leben“, so Mikolka-Flöry. Die Forschenden hoffen außerdem, durch das Projekt eine schiefe Wahrnehmung der Forschung etwas geradezurücken: „Wir kommen nicht einfach und nehmen Daten weg, sondern wir, Wissenschaftler:innen und Bevölkerung, sind gemeinsam Teil des Projekts. Das ist vielleicht auch ein Weg, der Entfremdung von Wissenschaft und Gesellschaft zu begegnen.“

Projektleitung

Norbert Pfeifer

Forschungsstätte

Technische Universität Wien

Disziplinen

Geowissenschaften, Umweltingenieurwesen, Angewandte Geowissenschaften

Fördervolumen

49.960 €

Klassifikation von Dialekten durch Mensch und Maschine

Klassifikation von Dialekten durch Mensch und Maschine
Porträt von Michael Pucher
Michael Pucher beschäftigt sich mit der Klassifikation von Dialekten durch künstliche Intelligenz. © Monika Morawetz

Was genau Artificial Intelligence (AI) eigentlich von der Welt „versteht“, wie eine AI Daten interpretiert und Entscheidungen trifft, ist meist jenen nicht bekannt, die damit arbeiten und forschen. „Artificial-Intelligence-Anwendungen, die mit Daten trainiert werden, sind in der Regel eine Art Blackbox. Es kommen Ergebnisse zustande, aber es bleibt unklar, welche Kriterien ausschlaggebend waren“, sagt Michael Pucher vom Österreichischen Forschungsinstitut für Artificial Intelligence. Dieses Citizen-Science-Projekt soll überprüfbar machen, wie weit es gelingt, aus intransparenter Blackbox-AI eine sogenannte „erklärbare KI“ (Explainable Artificial Intelligence, XAI) zu machen. Das Werkzeug dazu ist die Sprache, genauer: österreichische Dialekte. „Aus unseren Arbeiten zur Dialekt-Synthese wissen wir, wie ein Computer Dialekte produziert. Jetzt möchten wir untersuchen, wie eine XAI Dialekte identifiziert und von anderen Dialekten unterscheidet, indem wir ihr Vorgehen mit dem von Menschen vergleichen“, so Pucher. Das Forscher:innen-Team wird dazu eine Web-App entwickeln, mit der Menschen interagieren können, um im virtuellen Wettbewerb mit einer AI Dialekte zu identifizieren und österreichischen Regionen zuzuordnen. Die menschlichen Citizen Scientists werden ihre Entscheidungen den Forschenden erklären und so Aufschluss über ihre Entscheidungsfindung geben. Entsprechend wird die XAI so gebaut werden, dass Entscheidungsprozesse nachvollzogen werden können und weitgehend transparent sind, ansonsten wäre der Vergleich nicht möglich. Die AI weist die menschlichen Citizen Scientists etwa auf Frequenzen in einer Sprachprobe hin, die für sie bedeutsam sind. Was für die KI Relevanz hat, mag dabei für die Citizen Scientists bei der Klassifizierung von Dialekten vollkommen irrelevant sein. Pucher: „Eben der Vergleich von künstlichen und menschlichen Entscheidungsprozessen ist so spannend für uns. Wir sind aber auch überzeugt, dass die Teilnehmenden profitieren, weil sie Freude am Ausprobieren ihrer Sprachkompetenzen haben, vielleicht etwas Neues über ihre eigenen Dialekte erfahren und Einblick in die AI-Entwicklung bekommen.“

Projektleitung

Michael Pucher

Forschungsstätte

Österreichisches Forschungsinstitut für Artificial Intelligence

Disziplinen

Informatik, Sprach- und Literaturwissenschaften

Fördervolumen

49.557 €

Rassismen verstehen

Rassismen verstehen
Porträt von Elisabeth Scheibelhofer
Elisabeth Scheibelhofer bindet Akteur:innen mit Migrationshintergrund in ihr Forschungsprojekt ein, um Rassismen zu verstehen. © privat

Was passiert, wenn Wissenschaftler:innen die Interpretation von Daten Menschen überlassen, die nicht „vom Fach“ sind? In diesem Citizen-Science-Projekt „Rassismen verstehen“ geht es um die Interpretation von Interviews mit Arbeitskräften aus osteuropäischen Ländern, die in Österreich leben, und um ihre Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung. Die Soziologinnen, die das einjährige Projekt durchführen, wollen herausfinden, wie andere Menschen mit verschiedenen Hintergründen diese Interviews und insbesondere die möglichen Diskriminierungserfahrungen interpretieren. „Bei dem übergeordneten Forschungsprojekt zu diesem Citizen-Science-Projekt ging es um die Frage, warum osteuropäische Migrant:innen oft unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiten. Dabei wurde uns immer wieder von Diskriminierungserfahrungen berichtet, oft aber mit dem Zusatz, dass man sich nicht sicher sei, überhaupt Diskriminierung erlebt zu haben“, erläutert Clara Holzinger von der Universität Wien, die gemeinsam mit Anna-Katharina Draxl, ebenfalls Universität Wien, das Projekt durchführt. Wer kann nun mit welcher Begründung entscheiden, was Diskriminierung ist und was nicht? Üblicherweise ist die qualitative Sozialforschung darum bemüht, der „subjektiven“ Sicht auf die soziale Welt Rechnung zu tragen, und hat dafür auch eine Reihe von Methoden entwickelt. Aber warum nicht auch die Deutungshoheit aus der Hand geben? Die Soziologinnen wagen ein methodologisches Experiment: „Wir wissen aus der Lehre, dass es bereits eine Bereicherung ist, die Interviews mit Studierenden zu interpretieren. Ich erwarte deshalb mit Spannung, welche Ansätze und welche Interpretationen in den Workshops von den Citizen Scientists gewählt werden. Da diese oft selbst Migrationshintergrund haben werden, werden wir nicht über Menschen sprechen und deuten, wie es ihnen geht, sondern nehmen sie bei dieser Arbeit mit ins Boot. Das wird uns auch methodisch einen großen Schritt weiterbringen“, so Anna-Katharina Draxl. Das Projekt ergänzt das Projekt „Investigating the social construction of deskilling among ‚new‘ EU migrants in Vienna“, das sich durch die Auseinandersetzung mit Rassismus und Qualifikation auszeichnet, was im Kontext osteuropäischer Arbeitsmigration noch weitgehend unerforscht ist. Geleitet werden beide Projekte von Elisabeth Scheibelhofer, Soziologin an der Universität Wien: „Citizen Science ist mehr als die vermeintliche Flucht aus dem Elfenbeinturm. Für die Sozialwissenschaften hat die Einbindung der Akteur:innen eine besondere Relevanz, geht es doch um ein möglichst umfassendes Verständnis der sozialen Welt.“

Projektleitung

Elisabeth Scheibelhofer

Forschungsstätte

Universität Wien 

Disziplinen

Soziologie

Fördervolumen

44.950 €

Communities Intertwined – Visualising Inscribed Space

Communities Intertwined – Visualising Inscribed Space
Porträt von Andreas Zajic
Andreas Zajic möchte mit seinem Projekt „Communities Intertwined – Visualising Inscribed Space“ mit Hilfe der Bevölkerung Inschriften an Häusern erforschen. © SFB F 92 Man/MAX Erwin Pokorny

Manchmal ist es eine Jahreszahl an einem Balken; manchmal ein Sinnspruch, eine Widmung; der Name eines Steinmetzen: Inschriften an und in Gebäuden sind das Thema von „Communities Intertwined“. Das Citizen-Science-Projekt will Inschriften erfassen, die sich in privaten Häusern und im öffentlichen Raum befinden, und diese der Forschung zugänglich machen. „Inschriften sind etwas Besonderes, weil sie anders als alte Urkunden und Manuskripte dazu gedacht sind, an einem bestimmten Ort rezipiert zu werden. Das heißt, sie liefern den Kontext, in dem sie gelesen werden sollen, gleich mit“, sagt Andreas Zajic. Der Historiker der Österreichischen Akademie der Wissenschaften leitet das Projekt, das zeitlich auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Inschriften und örtlich auf Klosterneuburg fokussiert. „In unserem Projekt ‚Premises‘ konnten wir anhand der Inschriften langfristige Austauschprozesse zwischen Stadtbewohner:innen und dem Stift Klosterneuburg nachvollziehen“, sagt Zajic. „Jetzt möchten wir mit Hilfe der in Klosterneuburg ansässigen Expert:innen die Inschriften im Stadtraum entdecken, in denen sich weitere historische Interaktionen zwischen dem ,Innen‘ des Klosters und dem ,Außen‘ der Stadt widerspiegeln.“ Das Projekt lädt die heutigen Bewohner:innen historischer Gebäude im Stadtgebiet dazu ein, sich gezielt auf die Suche nach den Spuren der Geschichte zu machen und herauszufinden, was eine Inschrift über die Geschichte ihres Hauses und ihrer Stadt verrät. „Die Kenntnisse der Citizen Scientists und unsere bisherigen Forschungen ergänzen einander in vielerlei Hinsicht. Erst durch den Hinweis aus der Bevölkerung werden wir auf die historische Bedeutung einzelner Gebäude aufmerksam gemacht. Durch die Auseinandersetzung mit den schriftlichen Quellen, mit Grundbüchern sowie Urkunden aus dem Stift wissen wir vielleicht umgekehrt einige Details aus der Geschichte eines Gebäudes, welche die Besitzer:innen oder Bewohner:innen noch nicht kennen“, so Zajic. Die Geschichtswissenschaft kann generell von der Zusammenarbeit mit Nichtwissenschaftler:innen und Lai:innen profitieren, da sich nur so komplexere Forschungsfragen beantworten lassen. „Wir werden mit dem Projekt ein breites interessiertes Publikum erreichen und die Zusammenarbeit mit den Stadtbewohner:innen vertiefen“, so die Germanistin Sarah Deichstetter, die den Dialog und den Austausch moderieren und die Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wird. „Inschriften in Privatgebäuden bergen oft Überraschungen, da es keine systematischen Vorarbeiten in diese Richtung gibt. Nicht selten sind die Inschriften in Privatgebäuden nicht zugänglich. Solche Entdeckungen gelingen nur in Kooperation mit Citizen Scientists.“ In diesem Sinne wird „Communities Intertwined“ nicht nur neue Wege für Geschichtswissenschaft und Stadtforschung eröffnen, sondern auch für die Bewohner:innen ebendieser Städte.

Projektleitung

Andreas Zajic

Forschungsstätte

Österreichische Akademie der Wissenschaften

Disziplinen

Geschichte, Archäologie, Humangeografie, Regionale Geografie, Raumplanung

Fördervolumen

45.402 €

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