Zur experimentellen Narratologie des Bildes
Towards an experimental narratology of the image
Wissenschaftsdisziplinen
Kunstwissenschaften (55%); Medien- und Kommunikationswissenschaften (15%); Philosophie, Ethik, Religion (30%)
Keywords
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Narrative,
Narratology,
Icon,
Picture Theory,
Time In Pictures,
Single Still Image
1766 postulierte G. E. Lessing, dass ein Bild im Gegensatz zum Text kein zeitliches Programm besitze. Daraus leiten viele Erzähl- und Bildtheoretiker bis heute ab, dass Einzelbilder keine Geschichte erzählen können. Kunsthistoriker dagegen nehmen meist an, dass gewisse Bilder sehr wohl erzählend sind und fragen höchstens nach dem Wie der Bilderzählung im Einzelbild. Ziel des Projektes ist mittels Einsatz neuer psychophysiologischer Messmethoden diese überwiegend in getrennten Strängen geführten Debatten auf empirisch-experimentelle Weise zu bereichern. Der Antragsteller, Klaus-Peter Speidel (Paris Sorbonne, Philosophie), hat in seiner Dissertation theoretisch und bildanalytisch die Möglichkeiten einer reinen Bilderzählung im Einzelbild analysiert und möchte nun empirisch überprüfen, in wie weit und auf welche Weise Betrachter bestimme Bilder erzählerisch verstehen. Der Mitantragsteller, Raphael Rosenberg (Universität Wien, Kunstgeschichte), hat das erste Eye-Tracking-Labor an einem kunsthistorischen Institut aufgebaut und besitzt einzigartige Kompetenzen in der Messung und Analyse von Blickbewegungen bei der Betrachtung von Bildern. Er hat gezeigt, dass Versuchspersonen zwar nie Bildpunkte in gleicher Reihenfolge wahrnehmen, andererseits aber bestimmte Bildstrukturen regelmäßig nachvollziehen. Erste Pilotversuche, die in Wien auf Anregung von Speidel durchgeführt wurden, zeigen darüber hinaus, dass Teile von Bildern intersubjektiv eher früher oder später von Betrachtern entdeckt werden. Mittelpunkt des Projektes ist eine Studie, in der Versuchspersonen ganz verschiedene Bilder (Gemälde, Zeichnungen, Photos, künstlerische und unkünstlerische Werke) betrachten werden, während ihre psychophysiologischen Reaktionen auf unterschiedlichen Ebenen gemessen werden. Analysiert wird: 1. mittels Eye-tracking welche Bildzonen zuerst, welche später betrachtet werden, 2. mittels facial EMG und Hautleitwiderstand (GSR), welche emotionale Reaktionen mit der Entdeckung bestimmter Teile des Bildes einhergehen. Ob und wie die Bilder erzählend wahrgenommen werden, kann 3. durch verbale Beschreibung der Versuchspersonen kontrolliert werden. Die Bildauswahl wird insbesondere auch Werke berücksichtigen, in denen für die Gesamtbedeutung der Bildgeschichte wesentliche Elemente verhältnismäßig klein dargestellt sind (z. B. Géricaults Floß der Medusa). Erwartet wird, dass zumindest in diesem Fall Bilder ähnlich wie Texte, Spannung aufbauen und Überraschungen bereithalten. Während sich bereits einige empirische Studien dem Verständnis von Erzählung im Text und im Film gewidmet haben, öffnet diese Studie ein neues Forschungsfeld, aus dem sowohl für die Kunstgeschichte wie für das Verhältnis von Bild- und Textwissenschaften neue Impulse von großer Tragweite erwartet werden.
Ein monochrones Bild, das nur einen Moment direkt darstellt, kann verschiedenen Betrachter_Innen vollkommen autonom die gleiche Geschichte vermitteln. 1766 behauptet G. E. Lessing, dass Malereien, die nur einen Moment darstellen, für Erzählung ungeeignet seien, weil sie nicht mehrere Momente einer Geschichte vermitteln könnten. Bis heute vertreten Bildtheoretiker oder Erzählforscher regelmäßig den Standpunkt wonach ein monochrones Bild die Betrachter_Innen nur an bereits bekannte Geschichten erinnern könne. Mein Projekt hinterfragt diese Behauptung theoretisch und experimentell. Ausgehend von Beispielen wie Théodore Géricaults Floss der Medusa, argumentiere ich, dass monochrone Einzelbilder durch Implikatur die Elemente vermitteln können, die für eine minimale Erzählung konstitutiv sind. So lassen Menschen auf einem selbstgezimmerten Floss an den vorausgehenden Schiffbruch denken, das Erscheinen eines Schiffes am Horizont vermittelt die Möglichkeit ihrer Rettung. Wenn Betrachter_Innen ein spannendes Element (z. B. den Schiffbruch) vor dem spannungslösenden (z.B. dem rettenden Boot am Horizont) wahrnehmen, können solche Bilder sogar gezielt Spannung auslösen und diese auch wieder lösen. Damit steuern auch einzelne Bilder (nicht nur sprachliche Erzählungen, Filme und Bildserien) unsere Emotionen auf komplexe Weise. Diese Überlegungen wurde von Experimenten mit mehr als 240 Nicht-Experten_Innen bestätigt. Eine Mehrheit der Betrachter_Innen stimmen darin überein, dass bestimmte monochrone Bilder Geschichten erzählen und der Unterschied in dieser Beurteilung zu weniger narrativen Bildern war statistisch hochsignifikant. Weil auch Nichtexperten den Begriff der Erzählung gut beherrschen, habe ich argumentiert, dass auch dieses Ergebnis die Expertenmeinung infrage stellt, wonach ein monochrones Bild nichts erzählen könne. Außerdem habe ich untersucht, wie sehr sich Inhaltsbeschreibungen ähneln und ob verschiedene Betrachter_Innen die gleichen zeitlichen Abläufe rekonstruieren. Dabei fiel auf, dass unterschiedliche Teilnehmer_Innen die gleichen Skripte verwenden, wenn sie einen Bildinhalt zusammenfassen. So wurde bei der Bagnio Szene aus William Hogarths Marriage- à-la-Mode, das eine Frau zeigt, welche flehentlich vor einem verwundeten Mann kniet, während jemand durchs Fenster flieht, entweder von Mord oder Duell gesprochen. Bei Banksys Media, das ein junges Mädchen in einer zerstörten Landschaft zeigt, kamen nur die Skripte Naturkatastrophe oder Zerstörung durch Krieg zum Einsatz. Viele Betrachter_Innen beschrieben dabei auch Handlungen, die nicht explizit dargestellt waren. Wie sich herausstellte, interpretieren sie dafür insbesondere abgebildete Spuren, so dass z. B. vom Blut auf dem Hemd des Mannes und umgefallenen Stühlen auf einen vorausgehenden Kampf geschlossen wurde, den sie dann zum Bildinhalt zählten. Auch die zeitliche Abfolge der von verschiedenen Bildern implizierten Ereignisse wird von unterschiedlichen Teilnehmer_Innen ganz ähnlich rekonstruiert. Was den Anfang und das Ende einer dargestellten Ereigniskette betrifft, kommt es bei Bildern wie Hogarths Bagnio Szene zu über 50% Übereinstimmung. Es scheint also unstrittig, dass einige Bilder Ereignisse implizieren, die sie nicht explizit darstellen und Bilder dadurch autonom Geschichten vermitteln können.
- Universität Wien - 100%
Research Output
- 6 Zitationen
- 1 Publikationen
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2018
Titel What narrative is DOI 10.1515/fns-2018-0033 Typ Journal Article Autor Speidel K Journal Frontiers of Narrative Studies Link Publikation