Bildungserfolg bei Sprachtod? (B.E.S.T.)
Best success through language loss? (B.E.S.T.)
Wissenschaftsdisziplinen
Soziologie (50%); Sprach- und Literaturwissenschaften (50%)
Keywords
-
SchülerInnen mit Migrationshintergrund,
Sprachen- und Bildungspolitik,
Familien-/Schulspracherwerb,
Einwanderungsland (Österreich),
Bildungserfolg,
Herkunftsland (Türkei)
Welche Sprachen werden in Migrantenfamilien tatsächlich gesprochen? Die Frage ist hochaktuell und brisant. Denn die weitgehend quantitativ orientierte neuere Bildungsforschung zeigt, dass das Beibehalten der Familiensprachen dem Bildungserfolg der Folgegenerationen nicht zuträglich ist. Die großteils qualitativ orientierte Spracherwerbsforschung dagegen weist Vorteile für den Familiensprachbeibehalt nach. Das Projekt wird die Frage stellen, was davon "zutreffend" ist und wie derartige interdisziplinäre Widersprüche überhaupt entstehen konnten; ebenso zentral wird es untersuchen, weshalb bestimmte Herkunftsgruppen, wie z.B. die türkische, im Schnitt so besonders schwach abschneiden, und ob dies, wie oft vermutet, mit ihrem Sprachgebrauch zu tun hat. Die Antworten auf diese Fragen werden daraufhin zu überprüfen sein, wieweit sie der gegenwärtig hochexplosiven bildungspolitischen Diskussion in modernen Einwanderungsgesellschaften neue Perspektiven zu bieten haben. Aus einer explorativen Voruntersuchung und einem neu gebildeten Erklärungsmodell haben sich folgende Hypothesen ergeben: Die interdisziplinären Widersprüche könnten auf den immer noch tiefen "Graben" zwischen qualitativen und quantitativen Methoden zurückzuführen sein; ihm soll im Projekt mit interdisziplinärer Methodik und Theorie begegnet werden. Die Methoden aber müssen gerade dann hochgradig sensibel sein, wenn es um das Erheben des tatsächlichen familiären Sprachgebrauchs (und somit auch um stigmatisierte Mehrsprachigkeit oder Sprachverlust) geht. Gerade die migrantische Vielsprachigkeit aber verbindet die verschiedenen Herkunftsgruppen und kann also nicht für herkunftsspezifisches Abschneiden verantwortlich sein, ebensowenig wie individuelle, familiäre oder gar "kulturelle" Faktoren. Das herkunftsspezifische Abschneiden verweist vielmehr auf die gesellschaftlich-politische Makro-Ebene: Sprachkompetenz, Sprachgebrauch, -weitergabe und -verlust sind, wenn sie ganze Kollektive betreffen, vorrangig als Folgen hohen gesellschaftlichen Drucks denkbar, und damit als Folgen sozialer - hier: sprachen- und bildungspolitischer - Ungleichheit. Sprachen- und Bildungspolitik des Einwanderungslandes, aber auch des Herkunftslandes haben allergrößten Einfluss darauf, wie Menschen ihre Sprachen und Identitäten konstruieren (oder dekonstruieren), zeigen (oder verbergen) und weitergeben (oder aufgeben). Im Falle der türkischen Gruppe dürften sich genau diese Zusammenhänge der wissenschaftlichen Beobachtung bislang hochgradig entzogen haben: Die Makrofaktoren beider Gesellschaften, des Herkunfts- und des Einwanderungslandes, dürften Stigmatisierung und Sprachaufgabe mehr als in anderen Gruppen fördern. Wenn sich der familiäre Sprachgebrauch aber tatsächlich detailliert und in seinen vielen Facetten, qualitativ wie quantitativ, zeigen lässt, so lautet die wichtigste Hypothese: (Familien)Sprachverlust dürfte dem (Schul)Spracherwerb nicht zuträglich sein; Sprachbeibehalt dürfte dagegen besser ausstatten, da Spracherwerb ganzheitlich stattfindet und die Qualität elterlichen Inputs für ihn zentrale Bedeutung hat. Das Einbeziehen vieler betroffener Disziplinen (Soziologie, Sozio- und Psycholinguistik, Sprachtodforschung u.v.m.) soll den innovativen Zugang dieses Projekts möglich machen. Für methodische und theoretische Fragen ebenso wie für die bildungspolitische Praxis wird reicher Output erwartet.
Das FWF-Projekt B.E.S.T. ist eine sprachwissenschaftlich-interdisziplinäre Untersuchung zum Thema Mehrsprachigkeit, Migration und Bildungserfolg. Geographisch ist die Studie an zwei Kreuzungspunkten von Mehrsprachigkeit und Migration angesiedelt: in Wien und Istanbul, beides Ausgangspunkte wie auch Einzugsgebiete älterer und neuerer Vielsprachigkeit, besonders aus dem Balkanraum und der zentralen und östlichen Türkei. Inhaltlich liegt der Fokus auf Bildungsungleichheit (ethnischer Schichtung) als einer der wesentlichsten Facetten sozialer Ungleichheit. Ziel ist die Untersuchung der Reproduktion und vor allem des Durchbrechens von Ungleichheit. Methodisch wurde daher versucht, den Bildungsverlauf und den Erwerb (oder Verlust) von Sprachen für rund 180 Kinder zu rekonstruieren; viel Raum wurde dabei auch ihren Lehrkräften und Schulen sowie den Familien und (mehrsprachigen) Communities gegeben. Die Kinder, zum Zeitpunkt der Datenerhebung 10 Jahre alt, befinden sich auf einem breit gefächerten Kontinuum von ein- bis vielsprachig (darunter Deutsch, Türkisch, Kurdisch, Armenisch, Aramäisch, Arabisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Romani, Rumänisch, Albanisch, Makedonisch u.v.m.), mitteils verwobenenHerkunfts-und Einwanderungkontexten (Balkan, Türkei, Österreich) sowie diversen Formen (nationaler und internationaler) Migration und Flucht. Zudem bildet die Wiener Sprachenerhebung Multilingual Cities, an der sich rund 90% der Wiener Grundschulen (ca. 20.000 Kinder) beteiligten, den breiteren Rahmen zur untersuchten Kerngruppe. Das zentrale Anliegen des Projekts ist das kritische Durchleuchten von Begriffen wie Herkunft und Gruppenzugehörigkeit vor dem Hintergrund von schulischem Erfolg. Die Herausforderung bestand darin, zu rekonstruieren, welche Mechanismen denn eigentlich eine Gruppe im Bildungs- und Spracherwerb überhaupt definieren, konstruieren und folglich - vielfach losgelöst von individueller Leistung - ganzen Bevölkerungsteilen, Regionen und Schulen Scheitern oder Erfolg zusprechen. Die Resultate der Untersuchung beinhalten neue Zugänge für Mehrsprachigkeitsforschung und Didaktik zum multilingualen Sprachen- und Bildungserwerb, zudem ein Instrument zur Einschätzungeines besonders bildungserfolgsrelevanten Aspektskindlicher Sprachkompetenz u.v.m. Darüber hinaus leisten die Analysen des umfangreichen Materials einen kleinen Beitrag zum großen Gebiet der Biographieforschung, der Selbst- und Fremdkonstruktion von Gruppen, des Erzählens, Erinnerns und Rekonstruierens individueller und kollektiver Erfahrung. Die Publikation des Projekts wird in konsequenter Fortführung dieser Resultate auch dazu angelegt sein, neue Perspektiven zum aktuellen Stand internationaler Konflikt- und Friedensforschung zu eröffnen.
Research Output
- 3 Zitationen
- 1 Publikationen
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2024
Titel Unsettled hearing, responsible listening: encounters with voice after forced migration DOI 10.1515/applirev-2024-0088 Typ Journal Article Autor Brizic K Journal Applied Linguistics Review Seiten 727-745 Link Publikation