Karolingische Reform und regionale (Urkunden-)Praxis
Carolingian reform and regional (charter-) writing
Wissenschaftsdisziplinen
Geschichte, Archäologie (90%); Rechtswissenschaften (10%)
Keywords
-
Urkunden,
St. Gallen,
Edition,
Karolingerzeit,
Schriftlichkeit,
Rechtspraxis
Bis zum heutigen Tag werden im Stiftsarchiv St. Gallen weit über 800 frühmittelalterliche Urkunden aus der Zeit vor 920 aufbewahrt. Es handelt sich dabei um einen nördlich der Alpen einzigartigen Bestand von Originaldokumenten, von denen die meisten unmittelbar das frühmittelalterliche Kloster St. Gallen betreffen. Abgesehen von rund dreißig karolingischen Herrscherdiplomen handelt es sich dabei um so genannte Privaturkunden, die Rechtsgeschäfte wie Schenkungen, Veräußerungen, Tauschgeschäfte und Landleihen bezeugen bzw. (Besitz-)Streitigkeiten dokumentieren. Kaum eine andere Gruppe frühmittelalterlicher Privaturkunden wurde so intensiv von den Vertreterinnen und Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen untersucht. Neben der soliden, aber veralteten, Edition Hermann Wartmanns aus dem 19. Jahrhundert standen ihnen dabei seit den 1950er-Jahren zwei Bände aus der Reihe des renommierten Editionsunternehmens der Chartae Latinae Antiquiores (ChLA) zur Verfügung, in denen die St. Galler Urkunden bis 800 nach modernen Kriterien ediert und in Faksimile zugänglich gemacht worden waren. Durch die zeitliche Ausdehnung dieses internationalen Editionsunternehmens auf das 9. Jahrhundert und durch die Förderung durch den FWF konnten im Rahmen des 2007 abgeschlossenen Projektes P16294-G08 "Die Urkunden des Klosters St. Gallen im 9. Jahrhundert" auch die St. Galler Urkunden des Zeitraums von 800-820 im Rahmen der ChLA (ChLA 101 erscheint im Winter 2007/2008) zugänglich gemacht und in mehreren begleitenden Studien genauer untersucht werden. An diese begonnene Arbeit schließt das hier beantragte Projekt an, wobei es sich ebenso als dessen Fortsetzung als auch als dessen inhaltliche Erweiterung versteht. Und so sollen in diesem Folgeprojekt die etwa 150 St. Galler Dokumente aus der Zeit von 821 bis 840 im Rahmen dreier weiterer Bände der ChLA neu ediert werden. Außerdem sollen sämtliche St. Galler Urkunden bis zum Jahr 840, insgesamt etwa 400 Stück, im Rahmen eines Bandes des ebenfalls sehr renommierten Editionsunternehmens des Chartularium Sangallense zugänglich gemacht werden. Die im Rahmen der ChLA zu edierenden St. Galler Urkunden stammen im Wesentlichen aus der Regierungszeit Ludwigs des Frommen bzw. dem Abbatiat Gozberts (814/16-837/840). Es ist die Zeit einer weit reichenden kaiserlichen Reformpolitik, deren Auswirkungen auf ein regionales bzw. lokales Ambiente ausgehend von den St. Galler Urkunden nachgegangen werden soll. Gerade in diesen werden in der fraglichen Zeit nicht nur auf inhaltlicher, sondern vor allem auf den Gebieten von Schreibern, Schrift, Text und Geschäftsgang, nachhaltige Veränderungen erkennbar, die im Rahmen dieses Projektes untersucht und in einen größeren Kontext gestellt werden sollen. Ausgehend von der minutiösen Aufarbeitung des St. Galler Urkundenmaterials dieser Zeit und der Analyse der sich in diesen abzeichnenden Veränderungen sollen aber auch Einblicke in das klösterliche Skriptorium und in weiterer Folge in die klösterliche Handschriften-Produktion dieser Jahre gewonnen werden, um auch auf diesem Gebiet Einfluss und konkrete Umsetzung, mithin das "Funktionieren", von karolingischer Reform besser verstehen zu lernen.
Ein wesentliches Ziel dieses abgeschlossenen Projektes bestand darin, die 2004 begonnene Edition der frühmittelalterlichen St. Galler Urkunden im Rahmen der renommierten Reihe der Chartae Latinae Antiquiores (ChLA) fortzusetzen und alle Urkunden aus der Regierungszeit Ludwigs des Frommen (bis 840) in Faksimile zu edieren. In der Tat wurden im Rahmen des Projektes mehr als 200 St. Galler Urkunden aus der Zeit Ludwigs des Frommen, aber auch schon aus der Zeit Ludwigs des Deutschen (bis 858) in vier Bänden der ChLA (ChLA 102- 105) mit einem ausführlichen historischen und hilfswissenschaftlichen Kommentar publiziert. Außerdem wurden sämtliche St. Galler Urkunden von den 720er-Jahren bis zum Jahr 840 für eine moderne Volltextedition im Rahmen des ersten Bandes des Chartularium Sangallense vorbereitet, der im Jahr 2013 erscheinen wird. Ziel des Projektes war aber nicht nur die St. Galler Urkunden in den ChLA und im Chartularium zu edieren. Vielmehr diente das Urkundenmaterial als Einstiegspunkt für weitere Untersuchungen, in denen dem Einfluss der karolingischen Reformpolitik auf den regionalen bzw. lokalen Kontext Alemanniens und besonders St. Gallens nachgegangen wurde. Dabei standen vor allem die fundamentalen Veränderungen auf dem Gebiet der "Schriftlichkeit" in dieser Zeit im Mittelpunkt: Untersucht wurde vor allem das auffällige Verschwinden der bis ins frühere 9. Jahrhundert im St. Galler Urkundenmaterial gut belegten außerklösterlichen Schreiber. Bei der Analyse aller Einzelfälle wurde erkennbar, dass dieses Verschwinden in erster Linie eine direkte Konsequenz von tiefgreifenden administrativen Reformen innerhalb der Klostergemeinschaft und, vor allem auch der Professionalisierung im klösterlichen Scriptorium war. Im Zuge dieser Untersuchung von klösterlicher und außerklösterlicher Schreibtätigkeit gelang es, die allmähliche Herausbildung eines klösterlichen, St. Galler Urkundenmodells zu verfolgen und in weiterer Folge Elemente einer klösterlichen "Kanzleimäßigkeit" zu isolieren, die für das 9. Jahrhundert eine sichere Unterscheidung zwischen klösterlichen und außerklösterlichen Schreibern ermöglicht. Diese Unterscheidungsmöglichkeit erwies sich von großer Bedeutung nicht nur für im engeren Sinn hilfswissenschaftliche Fragestellungen, sondern auch für die allgemeine historische Interpretation des St Galler Urkundenmaterials. Die minutiöse Untersuchung der St. Galler Urkunden aus der Zeit Ludwigs des Frommen ermöglichte auch wertvolle Einblicke in den Aufbau des St. Galler Skriptoriums und das Funktionieren der klösterlichen Bücherproduktion, da ja ein großer Teil der klösterlichen Urkundenschreiber auch in der Herstellung von Codices tätig war. Einzelstudien konzentrierten sich auf zentrale Figuren des St. Galler Skriptoriums, namentlich auf Winithar, Waldo (im 8. Jahrhundert), und vor allem Wolfcoz und seine Nachfolger in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen und Abt Gozberts. Ergebnisse des Projekts wurden bereits und werden auch weiterhin in Artikeln publiziert, sollen aber vor allem in die geplante und mittlerweile begonnene monographische Studie über die frühmittelalterlichen Privaturkunden Alemanniens einfließen (Arbeitstitel: Die frühmittelalterlichen Privaturkunden Alemanniens. Regionale Urkundenpraxis und ihre sozialen Kontexte).