Anleihe und Zitat monophoner Melodien im Lied um 1500
Borrowing and Citation of tunes in late 15th century song
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (20%); Geschichte, Archäologie (10%); Kunstwissenschaften (60%); Soziologie (10%)
Keywords
-
15th century,
Musical Borrowing,
Songs,
Monophonic Tunes,
Polyphonic Music,
Analysis
In diesem Projekt geht es um die Identifikation und Analyse von mehrstimmigen Kunstliedern des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, die einstimmige Melodien verarbeiten. Dabei interessiert besonders die gegenseitige Beeinflussung von monophoner und polyphoner Musik, aber auch die Wandlungsfähigkeit und Gestalt der einfachen Lieder, die in ihren verschiedenen Erscheinungsformen gesammelt und katalogisiert werden. Die Identifikation von schlichten, nicht-höfischen Melodien beruht auf der Charakterisierung des Populären von Howard Mayer Brown, wobei auch popularisierte Melodien mit einbezogen werden, die sich in ihrer musikalischen Gestaltung von den komplexen höfischen Liedmelodien der Zeit deutlich unterscheiden. Auf dieser Grundlage, verbunden mit aktuellen Theorien zur ars memoriæ, soll die Verwendung und Migration von schlichten Melodien in der hochartifiziellen Liedkunst um 1500 untersucht werden, in welcher Art und Weise sie die Polyphonie durchdringen und wie sie deren melodische Kontur, Rhythmus, Modus und Akzidentiengebrauch beeinflussen. Besonderes Augenmerk wird jenen Gruppen von Liedern geschenkt, die auf derselben Melodie von franko- flämischer oder italienischer Provenienz beruhen. Der Vergleich der Melodievarianten erlaubt die Identifikation einer grundlegenden Intervallstruktur, die die Erkennbarkeit der Melodie ermöglicht. Zugleich kann aber auch nicht erwartet werden, dass in einem noch weitgehend instabilen und teilweise mündlichen Repertoire eine Rückgewinnung einer hypothetisch ursprünglichen Version einer Melodie eindeutig möglich ist. Jedenfalls werden diese einstimmigen Lieder in einer digitalen Datenbank samt einer Liste aller größeren und kleineren Varianten und einer kurzen Darstellung der sie enthaltenden Kompositionen präsentiert. Weiters soll untersucht werden, inwieweit Struktur und Modus der Melodien auf den polyphonen Satz einwirken, in den sie eingebunden wurden. Auch interessiert die Frage, wie der Komponist mit dem Wiedererkennungswert der Melodien umgegangen ist: ob er sie bewusst als Zitat einsetzte und als solche auch offenlegte, oder ob er sie eher als mehr oder weniger wichtiges Gerüstmaterial verwendete. Das dafür gewählte Analysemodell basiert auf aktuellen Studien, die den Bezug zur Musiktheorie der Zeit wahren. Eine solche Analyse, die auch zu einer Präzisierung des Personalstils eines Komponisten beitragen mag, ist zugleich wichtiger Bestandteil der oben erwähnten Identifizierung des untersuchten Repertoires und liefert wertvolle Information für die Eintragungen in der Datenbank. Die Ergebnisse der Forschung sollen in Form von Artikeln und Beiträgen in Fachzeitschriften publiziert werden und die Grundlagen für eine spätere Buchpublikation zu diesem Thema bilden. Der Melodienkatalog wird nach Abschluss der Arbeit im Internet frei zugänglich sein.
Das späte 15. Jahrhundert weist eine bemerkenswerte Zunahme in der Verwendung von präexistenten, popularisierenden melodischen Vorlagen als Basis für mehrstimmige chansons auf. Obwohl einzelne spezifische Studien in den letzten Jahrzehnten der Analyse dieses künstlerischen Phänomens gewidmet wurden, liegt bis heute keine umfassende Erforschung des Repertoires vor. Mit dem nun abgeschlossenen Projekt wurde eine mehrdimensionale, relationale Datenbank samt einer Transkription der einschlägigen Melodien mit Listen von Konkordanzen und Varianten erstellt. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden in einem größeren Forschungsbeitrag publiziert, weitere einschlägige Arbeiten sind im Entstehen begriffen.Die Datenbank stellt für alle interessierten Wissenschaftler und Musiker ein umfangreiches, bisher nicht in dieser Form zugängliches monophones Repertoire zur Verfügung. Es legt den Grundstein für die weitere Erforschung von Anleihe und Zitat sowie der mit diesen Verfahren zusammenhängenden kompositorischen Praktiken. Ebenso können die vertonten Texte hinsichtlich ihrer literarischen Gattung studiert werden. Darüber hinaus hat die Datenbank dank ihrer internen Verlinkung mit dem Digital Image Archive of Medieval Music (DIAMM), einer der wichtigsten elektronischen Ressourcen für Quellenstudien des Mittelalters und der Renaissance, erhöhte Sichtbarkeit und internationale Verbreitung innerhalb der akademischen Gemeinschaft gewonnen. Viele der mehrstimmigen Bearbeitungen monophoner Melodien sind anonym, eine erhebliche Zahl ist aber auch wichtigen Komponisten wie Josquin Desprez, Loyset Compère, Henricus Isaac und Antoine de Févin zugeschrieben. Obwohl der Schwerpunkt des Projekts nicht Autor-zentriert ist, können die Analyse und der Vergleich der unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien dazu beitragen, unser Verständnis kompositorischer Verfahren bei der Auseinandersetzung mit angeblich präexistentem und oft sehr einfachem Tonmaterial maßgeblich zu vertiefen. Außerdem wirft die weite Verbreitung vieler dieser Melodien die Frage auf, worin überhaupt ein Repertoire im Spätmittelalter besteht und ob und inwieweit Gedächtnis und Erinnerung in ihrer Überlieferung eine Rolle gespielt haben mögen. Zudem eröffnet die Tatsache, dass viele Melodien oft mit strophischen Texten erzählerischer Natur verbunden sind, neue Perspektiven in der Untersuchung von bestimmten literarischen Gattungen, die zwischen dem höfischen und dem populären Bereich angesiedelt sind. Alles in allem ergibt sich durch diese Forschungen ein breiteres und reicheres Spektrum der Musikgeschichte zwischen dem späten 15. und dem frühen 16. Jahrhundert.
- Universität Salzburg - 100%
- Rob Wegman, Princeton University - Vereinigte Staaten von Amerika
- Reinhard Strohm, The University of Oxford - Vereinigtes Königreich
Research Output
- 23 Zitationen
- 10 Publikationen
- 1 Datasets & Models
-
2019
Titel Ferrante Pallavicino’s Venetian years and opera: a thwarted connection? DOI 10.1080/0268117x.2019.1636711 Typ Journal Article Autor Bosi C Journal The Seventeenth Century Seiten 525-541 Link Publikation -
2012
Titel Musik und Architektur im Goldenen Schnitt. Grundsätzliche Überlegungen. Typ Book Chapter Autor Lindmayr-Brandl A -
2012
Titel Ludwig Senfl und seine Freunde: æmulatio und individuatio im Frühen Deutschen Lied. Typ Book Chapter Autor Lindmayr-Brandl A -
2012
Titel 38 entrances to music printing, 18 entrances to notation and 1 entrance to Johannes Stomius. Typ Book Chapter Autor Lexikon Der Musik In Der Renaissance -
2011
Titel Arbeit am musikalischen Werk DOI 10.7767/omz.2011.66.3.69 Typ Journal Article Autor Bosi C Journal Österreichische Musikzeitschrift Seiten 69-70 -
2010
Titel Musica ficta: Old Questions and a Reappraisal. Typ Journal Article Autor Bosi C -
2013
Titel THE MODERN INVENTION OF THE ‘TENORLIED’: A HISTORIOGRAPHY OF THE EARLY GERMAN LIED SETTING DOI 10.1017/s026112791300003x Typ Journal Article Autor Lindmayr-Brandl A Journal Early Music History Seiten 119-177 -
2014
Titel Early Editions of Early Music: The Trent Codices in the Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Typ Conference Proceeding Abstract Autor Lindmayr-Brandl A Konferenz Early Music Editing. Principles, Techniques, Future Directions, ed. by T. Dumitresco, K. Kuegle and M. van -
2011
Titel Strange Polyphonic Borrowings: Josquin's Missa Faysant regretz. Typ Conference Proceeding Abstract Autor Lindmayr-Brandl A Konferenz Josquin and the Sublime, ed. by Albert Clement and Eric Jas, Brepols: Turnhout 2011 -
0
Titel Emergence of Modality in Late Medieval Song: The Cases of Dufay and Binchois. Typ Other Autor Bosi C