Sprache und Gewalt. Die ethisch-politische Wende zur Sprache nach dem linguistic turn

Obwohl Sprache eines der zentralen Themen der Philosophie des 20. Jh. ist und Gewalt spätestens seit den 1960er Jahren im Zentrum interdisziplinärer Forschung steht, blieb bemerkenswerterweise die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Gewalt bis zum Ende des 20. Jh. weitgehend ausgespart. Demgegenüber steht das in den letzten Jahren stark gestiegene Interesse an Fragen sprachlicher Gewalt und Verletzbarkeit: Von verletzenden und beleidigenden Äußerungen, politischen und religiösen Formen von Propaganda über strukturelle Formen der Diskriminierung bis hin zu bisher unbekannten Formen von Gewalt, die häufig mit den Neuen Medien einhergehen, sind wir alltäglich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen sprachlicher Gewalt konfrontiert. Allerdings gibt es keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt durch sprachliche Äußerungen verletzbar sind und warum wir allein durch Wörter anderen Schmerz und Leid zufügen können. Obwohl es klar scheint, dass unsere sprachliche Verwundbarkeit damit zusammenhängt, dass wir sprachliche und soziale Wesen sind, ist die systematische Analyse des komplexen Verhältnisses von Sprache und Gewalt sowie der unterschiedlichen Weisen, durch die wir als sprechende Subjekte konstituiert werden, nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Gängige Ansätze betrachten das Verhältnis von Sprache und Gewalt als ein äußerliches oder tendieren dazu, sprachliche Gewalt entweder allein aus dem Handlungscharakter der Sprache zu erklären oder auf eine strukturelle Gewalt in der Sprache zu reduzieren. Dagegen geht das vorliegende Projekt neue Wege, indem es konsequent das komplexe Verhältnis von Sprache und Gewalt in den Blick nimmt. Die zentrale These ist, dass sprachliche Gewalt keine abgeleitete oder sekundäre Form einer ursprünglich physischen Gewalt ist, sondern eine eigenständige Form der Gewalt darstellt, in der das intrinsische Verhältnis von Sprache und Gewalt zu Tage tritt und die folglich als ein Schlüssel dienen kann für ein grundlegenderes Verständnis sowohl von Sprache als auch von Gewalt. Dahinter steht die Hypothese, dass es weder möglich ist, ein angemessenes Verständnis von Sprache zu gewinnen ohne Berücksichtigung von Gewalt, noch eine adäquate Auffassung zwischenmenschlicher Gewalt ohne Berücksichtigung von Sprache. Damit zielt das Projekt auf eine ethisch-politische Wende zur Sprache nach dem linguistic turn. Darunter ist keineswegs eine weitere "Wende" der Geistes- und Sozialwissenschaften zu verstehen, sondern eine Rückwendung auf die Sprache hinsichtlich ihrer Verschränkung mit dem Ethischen und dem Politischen eine Verschränkung, die selbst von der Sprachphilosophie des 20. Jh. weitgehend vernachlässigt wurde. Ziel des Projekts ist es, ausgehend von der Analyse sprachlicher Gewalt und Verletzbarkeit, ein nicht-reduktionistisches Verständnis von Sprache und Gewalt zu entwickeln, das uns erlaubt, Sprache neben ihrer kognitiv-kommunikativen Funktion in ihrer subjektivierenden und gemeinschaftsstiftenden Dimension zu bedenken sowie die unterschiedlichen Praktiken und Modi in den Blick zu nehmen, durch die wir als epistemische, ethische und politische Subjekte konstituiert werden.

Im Zentrum des FWF-Projekts "Sprache und Gewalt. Die ethisch-politische Wende zur Sprache nach dem linguistic turn" stand das Problem sprachlicher Gewalt und Verletzbarkeit, wie es sich von verletzenden und beleidigenden Äußerungen über Hate Speech und Propaganda bis hin zu neu entstehenden Formen symbolischer Gewalt in den sozialen Medien zeigt. Entgegen der in der Philosophie weitverbreiteten Tendenz, Sprache auf ein kommunikatives Mittel zu reduzieren sowie das Verhältnis von Sprache und Gewalt entweder als eine rein äußerliche Beziehung oder als einen strengen Gegensatz aufzufassen, konnte sowohl in systematischer Hinsicht als auch in zahlreichen Detailanalysen gezeigt werden, dass Sprache und Gewalt in einem komplexen Bedingungsverhältnis zueinander stehen: Sprache besitzt ebenso eine gewaltsame Dimension wie Gewalt eine sprachlich-symbolische Dimension aufweist, ohne dass diese Aspekte aufeinander reduzierbar wären. Sprachliche Gewalt ist folglich keine sekundäre, abgeleitete Form einer 'ursprünglich' physischen Gewalt. Vielmehr muss sie, so ein zentrales Ergebnis des Projekts, als eine eigenständige Form von Gewalt verstanden werden, deren genaue Analyse ein differenzierteres Verständnis sowohl von Sprache als auch von Gewalt erlaubt. Durch diese methodische und theoretische Weichenstellung konnte eine neue Perspektive auf Sprache in ihrer welterschließenden, gemeinschaftsstiftenden und subjektkonstitutiven Funktion gewonnen werden, die ihren zugleich verletzender und ermöglichender Charakter erklärt: Gerade weil Sprache Welt eröffnet, soziale Verbindungen etabliert und uns als anerkennbare Subjekte konstituiert, kann sie gewaltsam und verletzend sein; zugleich stellt sie die entscheidende Ressource dar, um der Gewalt entgegenzutreten und den Zirkel von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen. Ausgehend von diesen Überlegungen erarbeitete das Projekt ein nicht-reduktionistisches Sprachverständnis, welches Sprache - neben ihrer kognitiven, kommunikativen Funktion - auch in ihrer ethischen und politischen Bedeutung thematisiert. Die ethisch-politische Dimension der Sprache zeigt sich nicht nur in ihrem verletzenden Charakter, sondern auch in Phänomenen der Zeugenschaft, des Dissenses, des Unvernehmens oder der politischen Wortergreifung, die im Zuge des Projekts analysiert wurden. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung des politischen Diskurses entwickelte das Projekt normative Kriterien und Orientierungspunkte zur kritischen Bewertung politischer Formen der Wortergreifung sowie zur rechtlichen Beurteilung verhetzender Rede. Damit lieferte das Projekt zugleich einen entscheidenden Beitrag für ein umfassendes Verständnis von Sprache und Kommunikation, das den komplexen Herausforderungen digitalisierter und medialisierter Gesellschaften im 21. Jahrhundert gerecht zu werden vermag.