Deutungsmuster in Bezug auf die sowjetische Vergangenheit im gegenwärtigen Russland
Interpretation Patterns with relation to the Soviet Past in Contemporary Russia
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (10%); Andere Sozialwissenschaften (60%); Politikwissenschaften (10%); Soziologie (20%)
Keywords
-
Social Reflexivity,
Post-Soviet Studies,
Political Culture In Russia,
Social Patterns Of Interpretation,
Social Memory In Russia,
Reappraisal Of The Past
Die vorliegende Studie widmet sich den Mustern der kollektiven Erinnerung an die Sowjetzeit und ihrer Deutung im heutigen Russland. Der fehlende reflexive Zugang zur Sowjetgeschichte scheint gegenwärtig eine der bemerkenswerten Eigenschaften des kollektiven Bewusstseins der Bevölkerung Russlands zu sein. Das Ziel des vorliegenden Forschungsprojekts ist es, die kollektiven Deutungsmuster, die dem Umgang mit der sowjetischen Erfahrung zu Grunde liegen, genauer zu explizieren und theoretisch zu analysieren. Die Art und Weise, ob und wie auf die sowjetische Vergangenheit sinnhaft Bezug genommen wird, ist für mich zum einen ein wesentlicher Bestandteil der gegenwärtigen politischen Kultur in Russland. Zum anderen ist es auch ein wichtiger Bestimmungsfaktor im Prozess der postsowjetischen gesellschaftlichen Transformation. Mein Erkenntnisinteresse gilt somit 1) der näheren Erfassung der spezifischen gesellschaftlichen Deutungsmuster in Bezug auf die sowjetische Vergangenheit und 2) dem besseren Verständnis ihrer spezifischen Rolle im Prozess des postsowjetischen sozialen Wandels. Von besonderem Interesse ist hierbei die theoretische Frage, inwiefern Dynamik und Richtung des sozialen postsowjetischen Wandels mit einer kritischen gesellschaftlichen Reflexion über die sowjetische Erfahrung in einen Zusammenhang gebracht werden können. Mein besonderes Erkenntnisinteresse liegt also auf den kollektiven Potenzialen der Reflexivität im Umgang mit der historischen Erfahrung, - dieser Aspekt wurde für die postsowjetische Gesellschaft Russlands bis jetzt so gut wie gar nicht erforscht, das vorgestellte Forschungsprojekt soll hier Pionierarbeit leisten. Anhand von biographischen narrativen Interviews sollen die Spezifika des subjektiven historischen Rückblicks bzw. bei den Deutungsmustern in Bezug auf die sowjetische Erfahrung empirisch erhoben werden. Im Fokus der Betrachtung steht, ob und wie die Subjekte auf die sowjetischen Erfahrungen sinnhaft Bezug nehmen, welche spezifische Muster in der Wahrnehmung und Interpretation des damaligen Geschehens in ihren Äußerungen zu erkennen sind, in welchen inhaltlichen Kontexten das geschieht und ob und wie die Relevanz der historischen Erfahrung der Sowjetzeit begründet wird. Ich beabsichtige, zwischen 30 und 40 biografische Interviews durchzuführen und dabei mindestens zwei Altersgruppen zu erforschen, nämlich die junge Generation der 20-25-jährigen und die ältere Generation ab 60 Jahren. Um die Aussagekraft der Daten zu erhöhen, will ich mich zunächst auf die beiden Hauptstädte Moskau und Sankt Petersburg sowie die dortige soziale Schicht der sogenannten humanistischen und technischen Intelligenz konzentrieren. Bei der Gewinnung von Interviewpartnern werden meine Kooperationspartner vor Ort behilflich sein. Die Ergebnisse der Studie könnten sowohl für Wissenschaftler als auch für Akteure der Zivilgesellschaft von Interesse sein. Diese Studie eröffnet zudem für Vertreter von Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft eine neue Sicht auf das postsowjetische Russland. Das Projekt soll auch diesen Gruppen wertvolle Erkenntnisse über die Herausforderungen und Spezifika des postsowjetischen Wandels und aktuelle Wesensmerkmale der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Bewusstseins in Russland vermitteln.
An diesem Forschungsprojekt hat mich insbesondere der Blick der heute in Russland lebenden Menschen auf die sowjetische Vergangenheit interessiert: Wie gut kennt man sie, welche Vorstellungen haben die Menschen heute vom Leben ihrer Vorfahren? Welche Emotionen und Gefühle begleiten den Blick in die Sowjetzeit Angst? Neugier? Nostalgie? Um auf diese Fragen Antworten zu erhalten, führte ich in Moskau und St. Petersburg, den beiden mit Abstand wichtigsten Städten Russlands, 40 Interviews mit jungen Leuten (18 bis 28 Jahre) sowie mit Personen, die älter als 55 Jahre sind, durch. Hat die ältere Generation in der Sowjetzeit noch unmittelbar Erfahrungen gemacht, wurde die jüngere erst danach geboren und kennt daher die Sowjetunion nur mittelbar: aus Erzählungen in der Familie, aus den Medien, dem Geschichtsunterricht in Schule und Universität etc. Aussagen über die sowjetische Geschichte sind im heutigen Russland oft Zündstoff für heftige Debatten oder, in bestimmten Fällen, sogar für politisch motivierte Verfolgungen. Die mit einem Aufnahmegerät angefertigten Interviews gestalteten sich oft nicht einfach. Viele Menschen schienen angesichts des Themas sehr angespannt zu sein und reagierten auf meine Fragen irritiert bis ängstlich. Es war daher für mich sehr erfreulich, dass viele InterviewpartnerInnen am Ende für die Gelegenheit, sich die Familiengeschichte ins Bewusstsein zu rufen, dankbar waren. Nicht wenige gaben an, noch nie ein solches Gespräch geführt und sich überhaupt noch nie derartigen Fragen gestellt zu haben. Einer der wichtigsten Unterschiede liegt erwartungsgemäß im Umfang des Wissens: Die jungen Menschen äußerten oft nur vage Vorstellungen vom Leben ihrer Vorfahren in der Sowjetunion; der wichtigste historische Bezugspunkt sind für sie die ersten Jahre nach dem Zerfall der UdSSR (1991). Sie betrachten die Sowjetunion als eine weit von ihnen entfernte Vergangenheit und glauben, in einem gänzlich anderen Land zu leben. Die jungen Menschen zeigen keine nostalgischen Stimmungen in Bezug auf das Leben in der Sowjetunion, obwohl ihr Bild davon sehr stark idealisiert ist. Das betrifft ausgerechnet das offizielle und ewig optimistische Zukunftsbild, das in der Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg vermittelt wurde. Die Jungen zeigen sich beinahe neidisch darauf. Im Gegensatz zu damals hätten sie heute kein Gefühl mehr, sich in Richtung einer besseren Zukunft zu bewegen. Erstaunlicherweise gaben viele von ihnen auch an, dass Menschen in der Sowjetunion viel freier waren als sie selbst heute. Allerdings verstehen sie unter Freiheit vor allem soziale Sicherheit. Den Verlust der staatlichen Sicherheiten bedauern auch die älteren Menschen, doch im Gegensatz zu den jüngeren schätzen sie das gegenwärtige Leben in Russland als viel freier ein. Trotz durchaus vorhandenem Wissen von Repressalien und Staatsterror in der Sowjetunion und von Opfern in der eigenen Familie wurde dieses Thema von den Interviewten kaum angesprochen; die Schicksale der Verwandten wurden meistens sehr trocken und eher emotionslos wiedergegeben. Insbesondere hier zeigte sich, wie ambivalent der Rückblick in die sowjetische Vergangenheit ausfällt.
- Sigmund Freud Priv. Univ. - 100%