Italienisches Kino der Migration seit 1990

Das Kino ist ein zentraler Ort der (Selbst)artikulation von Geschichte, Filme nehmen an kulturellen Aushandlungs- und Zirkulationsprozesse teil, die nicht nur Wissen und Normen vermitteln und so identi- tätsbildend wirken, sondern dank ihres Möglichkeitssinns auch kulturelle Ordnungen performativ verän- dern können. Unter dieser Prämisse gerät das zeitgenössische italienische Kino, genauer gesagt das cinema di migrazione seit 1990 in den Blick des Forschungsprojekts. Das cinema di migrazione antwortet in Italien seit den 1990er Jahren auf die oft polemische und abwertende Berichterstattung der Massenmedien mit einer Art Gegenbild, in dem es sich mit der Einwanderung in die italienische Gesellschaft, aber auch mit der eigenen Auswanderungs- (z.B. in die USA) und Kolonialgeschichte kritisch auseinandersetzt. Eines der zentralen Ziele des Forschungsprojekts ist die Frage, ob und inwiefern diese Filme ihrem Anspruch eines cinema dimpegno, einer counterculture genügen, d.h. ob man beim cinema di migrazione tatsächlich von einem Kino sprechen kann, das Blick- und Machtregime in Frage stellt, um abseits filmgeschichtlicher Stereotypen ein differentes und differenziertes Italien zu zeigen. Es handelt sich um ein dezidiert inter- disziplinär ausgerichtetes kulturwissenschaftliches Forschungsprojekt: Die Italianistik wird mit den Filmwissenschaften, den Gender, Intersectional und Labor Studies, den Border Studies und der kollektiven Gedächtnisforschung ins Gespräch gebracht. Die Analyse erfolgt entlang von vier Achsen: a) Der erste Aspekt gilt der visuellen (Genre)Verortung von Migranten und Migrantinnen zwischen Melodrama, Roadmovie und neuem Heimatfilm. Schon der Akt der filmischen Repräsentation rückt die MigrantInnen von der Peripherie in das Zentrum, die Frage ist nun, wie dieses Zentrum narrativ und visuell ausgestaltet wird und welchen Genreregeln die jeweiligen Inszenierung folgt. b) Der zweite Aspekt zielt auf die intersektionalen Identitätskategorien, davon ausgehend, dass Ungleich- heits- und Unterdrückungsverhältnisse nicht allein auf eine Kategorie reduziert werden können; die Kategorien treten vielmehr in verwobener Weise auf, verstärken sich gegenseitig, schwächen sich ab oder können sich auch verändern. Untersucht wird beispielsweise das Zusammenspiel der Inszenie- rungen ethnischer Herkunft, von Gender und Arbeit im cinema di migrazione. c) Die dritte Achse richtet sich auf die Frage, inwiefern die Filme in ihrem Bemühen, geographische und ethnische Grenzen zu dekonstruieren, wirklich als eine Form alternativer und transnationaler (Film-) Geschichtsschreibung der italianità gefasst werden können. d) Die letzte Achse wiederum bildet das kollektive Gedächtnisses des amerikanischen Traums, also die Medialisierung der eigenen, italienischen Emigration. Mit dieser Achse wird auch eine historische Dimension in das Projekt eingezogen. Es geht um die (Re)modellierung des Sehnsuchtsortes Amerika, sei es in der commedia allitaliana, sei es im zeitgenössischen Film. Das Forschungsprojekt leistet damit nicht nur einen Beitrag zum italienischen cinema di migrazione, sondern die transnationale, kulturwissenschaftliche Fragestellung vermag die in Italien lange vernach- lässigte Bedeutung vermeintlich nationaler Erzählungen in einen globalen Kontext zu rücken.

Unsere Forschung zum Migrationskino in Italien ist auf vier Bereiche konzentriert: A) Der Fokus lag auf (hybriden) Genres, Genreumschreibungen oder Gegenerzählungen. Sabine Schrader zeigt, dass der Dokumentarfilm in Italien besonders experimentierfreudig ist, da er sich meist jenseits kommerzieller Zwänge bewegt. Das Genre befasst sich nicht nur mit der Vielfalt der (Post-)Migration, sondern auch mit der Vielfalt der Wirklichkeitskonzepte und ihrer Mediatisierung; B) Der zweite Schwerpunkt liegt in den Auswirkungen intersektionaler Ansätze auf "migrantische" und "italienische" Identitäten. Mario V. Casale dekonstruiert Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit und entlarvt die (Un-)Sichtbarkeit von sexuellen Minderheiten. C) Auf der Grundlage der Studien von Judith Butler über Prekarität arbeitet Stella Lange das Konzept des Frames aus, um medienkritische Strategien bei der Inszenierung (post)migrantischer Subjekte aufzuzeigen, die von unterschiedlichen wahrnehmbaren und materiellen Formen der Prekarität betroffen sind. Die ästhetisch motivierte Frame-Analyse im Film ist ein entscheidender Ansatzpunkt, um das Wechselspiel zwischen Prekarität und Medienreflexivität zu analysieren. D) Antonio Salmeri forscht zum transnationalen kollektiven Gedächtnis, das auf die italienische Geschichte der Emigration/des Kolonialismus zurückgreift. Die These ist, dass die kulturelle Funktion italienischer Emigrationsfilme darin besteht, das Imaginäre der Emigration zu "entzaubern", obwohl sie gleichzeitig relevante Prozesse der (Neu-)Definition der sozialen Realität bezeugen und ermöglichen. Am Ende stehen 37 Veröffentlichungen im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt. Zwei Dissertationen und eine Habilitationsschrift stehen kurz vor dem Abschluss. Darüber hinaus war es unser Bestreben, das Kino der Migrationen über den akademischen Diskurs hinaus bekannter zu machen und wir haben u.a. ab 2018 stark mit dem internationalen Innsbrucker Filmfestival InnContro kooperiert.