Konfigurationen von "Remoteness": Verschränkungen von Mensch und Transportinfrastruktur

Die Weiten der Subarktis sind von mächtigen borealen Wäldern, Sümpfen und Bergketten dominiert. Dementsprechend sind die vorhandenen Verkehrsnetze spärlich und liegen oft weit voneinander entfernt. Entlang der vorhandenen Fußpfade, Flusswege, Straßen, Eisenbahnstrecken und Luftverkehrswege konzentrieren sich hingegen die menschlichen Aktivitäten. Unsere Grundannahme ist, dass Veränderungen im Verkehrsnetzwerk unter solchen Bedingungen d.h. physische Entlegenheit, raues Klima, geringe Bevölkerungsdichte und Mangel an Verkehrswegen erhebliche Konsequenzen für das Leben der Menschen haben. Wir konzentrieren uns auf die soziale und die räumliche Dimension dieser Verflechtung von Menschen und Verkehrsinfrastruktur. Unsere Studie befasst sich mit Ostsibirien, einer entlegenen Region, deren Bedeutung von ökonomischen Interessen an großteils unerschlossenen natürlichen Rohstoffen gekennzeichnet ist. Die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) und die Amur-Yakutsk-Magistrale (AYaM) definieren unsere Untersuchungsregion und sind Teil eines Eisenbahnsystems, welches während der Brezhnev-Ära gebaut wurde und jetzt, während Putins zweiter Präsidentschaft, ausgebaut wird. Die zentrale Forschungsfrage unseres Projekts lautet: Wie wirken sich Veränderungen von entlegenen Verkehrssystemen auf menschliche Sozialität und Mobilität angesichts der technosozialen Verflechtungen von Menschen und Infrastruktur aus? Mit dieser Frage wird sich ein russisch- österreichisches Forschungsteam aus der Sozialanthropologie und Geographie auseinandersetzen. Unsere methodische Bandbreite umfasst sowohl qualitative und quantitative als auch GIS-Methoden. Der innovative Mehrwert dieses Projekts definiert sich dadurch, dass rezente anthropologische Debatten zur Verschränkung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren mit Diskussionen über Rohstoffabbau, Gemeindeentwicklung, Mobilität und demographischen Veränderungen in entlegenen Regionen des Nordens verbunden werden. Der geographische Beitrag, der sich am spatial turn in der Anthropologie orientiert, ermöglicht es uns, räumliche und soziale Fragen zu behandeln. Die Anwendbarkeit unserer Resultate beschränkt sich keinesfalls nur auf den Norden, denn zukünftige Forschungen in anderen entlegenen Rohstoff-Frontiers können von unseren Ergebnissen zu Konfigurationen von Remoteness ebenso profitieren. Unser Projekt wird auch die Interessen lokaler stakeholders miteinbeziehen. Im vorliegenden Fall werden BewohnerInnen Ostsibiriens sowie lokale Organisationen, wie Museen, Vereinigungen der BAM- und AYaM-ErbauerInnen in die Durchführung und Diskussion unserer Forschung aktiv eingebunden. Die kontinuierliche Vermittlung von Teil- und Endergebnissen in der Projektregion sowie Aktivitäten in den Gemeinden stellen die Rückführung des Wissens sicher und tragen zum kulturellen Leben jenseits der Wissenschaft bei. In Österreich werden die gelebten Realitäten Ostsibiriens durch öffentlichkeitswirksame sowie wissenschaftliche Veranstaltungen vermittelt werden. Denn obwohl unser Standort fernab der untersuchten Region liegt, sind wir durch die Eisenbahnlinien und die Güter, die darauf transportiert werden, sowie durch Öl- und Gasleitungen mit ihr verbunden.

Das Projekt "Configurations of Remoteness" (CoRe) beschäftigte sich mit den Auswirkungen einer in den 1970er und 1980er Jahren in Ostsibirien erbauten Eisenbahnlinie auf die dortige Lokalbevölkerung. Die Tatsache, dass es in der Gegend zuvor kaum moderne Transportinfrastrukturen gegeben hatte, macht diese Eisenbahnlinie - die Baikal-Amur Magistrale oder BAM - wissenschaftlich besonders interessant, weil dadurch die Auswirkungen sichtbarer sind als in Gebieten mit ohnehin reichlich vorhandenen Transportinfrastrukturen. Eine weitere Besonderheit des Fallbeispiels BAM ist der Umstand, dass ein Teil der Erbauer - die sogenannten "bamovtsy" - entlang der Bahnlinie angesiedelt wurde. Das ermöglichte es dem Projekt Interviews und andere Gespräche sowohl mit den zugesiedelten Erbauern als auch mit Vertretern der indigenen Bevölkerung und später Angesiedelten zu führen. Heute, über 30 Jahre nach Fertigstellung der BAM, befindet sich das Gebiet in einer schwierigen sozioökonomischen Situation. Die ideologischen und ökonomischen Grundlagen dieses letzten sozialistischen Megaprojekts sind spätestens Anfang der 1990er Jahre verschwunden und das darauffolgende Jahrzehnt des Übergangs zu einer Form des Kapitalismus hat zu Bevölkerungsabwanderung und ökonomischer Rezession geführt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass vor allem die "bamovtsy", die nicht nur Arbeitskräfte waren, sondern ihr ganzes Leben in den Dienst dieser Eisenbahnlinie und der Kolonisierung des Gebiets gestellt hatten, heute mit Wehmut und Nostalgie über die "gute alte Zeit" des Spätsozialismus sprechen. Auch für die meisten anderen Bewohner der Region ist heute ein Leben ohne die BAM schwer vorstellbar. Paradoxerweise bedeutet das nicht, dass diese Bahnlinie von unseren Gesprächspartnern viel oder regelmäßig benutzt wird. Unsere Studien haben jedoch auch gezeigt, dass es vereinzelt Gemeinden gibt, die nicht an das Transportnetz der Region angeschlossen werden wollen. So haben wir z.B. einen Fall dokumentiert, wo sich eine indigene Siedlung seit den 1980er Jahren erfolgreich dagegen wehrt an das Straßen- und Schienennetz der Region angebunden zu werden. Andererseits haben wir auch Siedlungen dokumentiert, die weit abseits der Bahnlinie liegen und durch die BAM weder negativ nach positiv beeinflusst wurden. Außerdem sind durch die Bahnlinie gewisse Orte heute "weiter abgelegen" als in der Sowjetzeit, weil die BAM Ressourcen, Menschen und administrative Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Gleichzeitig hat das staatliche Modernisierungsprogramm BAM-2 alte (sowjetische) Versprechen aufgegriffen und neue Hoffnungen geschürt. Insgesamt hat CoRe einen wichtigen Beitrag zum anthropologischen Verständnis der Wechselwirkung von gebauten, sozialen und natürlichen Umwelten geliefert. Transportinfrastrukturen spielen in dieser Dynamik eine besondere Rolle, da sie meist von externen Interessen initiiert und finanziert werden und - zumindest potentiell - auch lokalen Interessen dienen können. Diese Einsicht hat zur Ausarbeitung eines größeren, pan-arktischen Projekts (InfraNorth) geführt, das sich mit allen Formen arktischer Transportinfrastrukturen beschäftigt. InfraNorth wurde kürzlich vom European Research Council als Advanced Grant gefördert. Ohne CoRe wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen.