Kultivierte Latenz. Die andere Moderne in der österreichischen Literatur 1930–1960
Latency under Construction. The Other Modernism in Austrian Literature 1930–1960
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (25%); Sprach- und Literaturwissenschaften (75%)
Keywords
-
Literature,
National Socialism,
Austria,
Other Modernism,
20th century,
Latency
Das literaturwissenschaftliche Projekt untersucht österreichische Autoren, die zwischen 1930 und 1960 die Anliegen der Moderne durch den Einsatz vor- und antimoderner Mittel zu retten versuchen. Diese andere Moderne ist ein internationales Phänomen, dessen österreichischer Strang vor allem durch das Bemühen gekennzeichnet ist, von einem tieferen Sinn, von einem "zweiten, tieferen Boden der Wirklichkeit" (George Saiko) zu erzählen. Die Umsetzung dieses Vorhabens führte in jenes Spannungsfeld von Nationalsozialismus und Moderne, das in der internationalen Forschung unter den Stichworten "reflected", "reactionary" und "fascist modernism" intensiv diskutiert wird. Ziel des Projekts ist es, diese andere Moderne ausgehend vom Werk fünf österreichischer Autoren (Hermann Broch, George Saiko, Heimito von Doderer, Alexander Lernet-Holenia, Hans Lebert) erstmals durch Vergleich erschöpfend aufzuarbeiten. Durch die Rehabilitierung des doppelten Bodens der Wirklichkeit entwickelten die untersuchten Autoren eine spezifische Ästhetik der Tiefe, der in der österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Das Habilitationsprojekt schließt diese Forschungslücke. Zur Erreichung seines Ziels greift es ausgehend von Vorarbeiten der Antragstellerin auf die rezenten kulturwissenschaftlichen Konzepte der Latenz zurück. Durch den latenztheoretischen Zugang eröffnen sich zwei neue Perspektiven einerseits auf die ästhetischen Verfahren, anderseits auf die historische Funktion der analysierten Texte: Zum einen ermöglicht er die differenziertere Erfassung und methodologisch präzisere Analyse der textinternen Techniken dieser anderen literarischen Moderne in Österreich. Zum anderen schärft er den Blick auf die historisch-politische Funktion der betreffenden Texte im Spannungsfeld zwischen "reflected" und "reactionary modernism". Dieses Spannungsfeld wird durch Vergleich der Autoren und ihrer Strategien und unter dem Aspekt der Kontinuitäten und Brüche untersucht, mit besonderem Blick auf die Zäsuren 1934/38 und 1945 sowie im Lichte der aktuellen internationalen Periodisierungsdebatte (1925/1930 und 1955/1960). Durch die beiden Perspektiven (ästhetische Verfahren und historische Funktion) werden die gängigen kulturwissenschaftlichen Ansätze zur Latenz verknüpft, konkretisiert und erweitert sowie für literaturhistorische Analysen zugänglich gemacht. In methodischer Hinsicht verbindet das Projekt narratologische Analysen mit Instrumenten der poetologischen Diskursanalyse. Die narratologische Untersuchung stützt sich auf das Konzept der erzählten Welt und zieht zur Bestimmung von Schnittstellen Studien zum magischen Realismus, zum Phantastischen und zum Unheimlichen heran. Diese Analysen werden durch einen diskursanalytischen Blick auf die Verarbeitung zeitgenössischer Tiefen- und Latenzdiskurse (Psychoanalyse, Lebens- und Existenzphilosophie) ergänzt, wobei auch nach formalen, poetologischen Implikationen gefragt wird. Das Projekt ist in mehrfacher Hinsicht für die österreichische und internationale Forschungslandschaft relevant: Zum einen leisten die auf der Grundlage jüngster Konzepte der Latenz erarbeiteten Forschungsergebnisse einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Erforschung des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Moderne. Zum anderen legt die Untersuchung der anders modernen Moderne die vielfachen Schattierungen dieses Verhältnisses offen, und ermöglicht damit auch einen differenzierten (literatur-)historischen Blick auf die Jahrzehnte nach 1945. Schließlich ist die untersuchte Problematik die Ästhetik und Funktion der Tiefe aktuell und in einer Zeit, in der erneut das Bedürfnis nach festen Fundamenten, Tiefe und Substanz aufkommt, höchst relevant. Forschungsstätte für die beantragte Hertha-Firnberg-Position ist das Institut für Germanistik der Universität Wien, das Projekt ist in mehrere (inter-)nationale Kooperationen eingebettet.
Ausgangspunkt des literaturwissenschaftlichen Projekts waren jüngste Diskussionen zum komplexen Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Moderne. In deren Verlauf wurde die lange übliche, klare Gegenüberstellung zwischen einer als progressiv verstandenen gesellschaftlichen Moderne und dem als antimodern gedeuteten Nationalsozialismus revidiert. Stattdessen richtete man den Blick nun auf die modernen Facetten des Nationalsozialismus und auf die Ambivalenzen und Gefahren in der Geschichte der Moderne. An dieses neue Interesse für Schattierungen, Interferenzen und Zweideutigkeiten knüpfte das Projekt an, indem es sich zum Ziel setzte, vor dem skizzierten Hintergrund auch die Frage nach der literarischen Moderne neu zu stellen. Die zentrale, im Verlauf der Arbeit verifizierte These lautete, dass es in der österreichischen Romanliteratur der Jahrzehnte zwischen 1930 und 1960 Bemühungen um eine andere, verbesserte, antimodernen Kräften entgegentretende Moderne gab. Deren Vertreter (u.a. Hermann Broch, George Saiko und Heimito von Doderer) wandten hierbei eine Strategie an, die ihnen zwar nicht bewusst, jedoch hoch raffiniert war. Sie bejahten das zeitgenössische, antimoderne Bedürfnis nach einer echteren, tieferen Erfahrung von Wirklichkeit. Im Gegensatz zur nationalsozialistischen Instrumentalisierung der Idee latenter Tiefenkräfte (Blut, Wille, Rassenschicksal) strebten die österreichischen Autoren jedoch danach, diese Sehnsucht zu kultivieren, sie über das Medium der Literatur in eine gesellschaftlich moderne, aufgeklärte Richtung zu wenden. In diesem Versuch, in Zeiten erstarkender antidemokratischer Tendenzen nach einer Lösung zu suchen, die Anhänger antimoderner Ideologien nicht per se ausschloss, lag die Gegenwartsrelevanz des Projekts sein Nutzen angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen. Mit der Rekonstruktion der Bemühungen um eine andere, vertiefte Moderne zwischen 1930 und 1960 gelang es dem Projekt nicht nur, eine entscheidende Forschungslücke in der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung zu schließen. Als maßgeblicher, wissenschaftlicher Fortschritt ist auch der im Projekt neu entwickelte Zugang zur Geschichte literarischer Modernismen im Spannungsfeld zwischen Faschismus und soziopolitischer Moderne zu verstehen. Bei der Erarbeitung dieses Zugangs schloss das Projekt an aktuelle Forschungen zur Figur der Latenz an. Im Gegensatz zu bisherigen Studien schlug es jedoch einen interdisziplinären Weg ein und verknüpfte sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze. Die hierdurch ermöglichte, wegweisende Rekonzeptualisierung und Rekontextualisierung literarischer Modernismen konzentrierte sich auf eine Reihe österreichischer Autoren. Sie enthält jedoch eine Frage, die nur zukünftige, international ausgerichtete Moderneforschungen beantworten können: Denn zu welchen Ergebnissen gelangt man, wenn aus diesem neuen Blickwinkel Kafka und Musil, Joyce und Beckett (und andere) betrachtet werden? Gilt es die Koordinaten der Literatur- und Kulturgeschichte der Moderne zu überdenken?
- Universität Wien - 100%
- Lutz Ellrich, Universität Köln - Deutschland
- Moritz Baßler, Universität Münster - Deutschland
Research Output
- 3 Publikationen
-
2015
Titel Determinanten-Dilemma. Zola-Rezeption und "erweiterter Naturalismus" bei Hermann Broch und George Saiko. Typ Book Chapter Autor Müller S -
2014
Titel Unbehagliche Perspektiven. Masse, Recht und Führerschaft in George Saikos Roman "Der Mann im Schilf". Typ Book Chapter Autor Müller S -
2015
Titel Korrumpierte Ferne, gerettete Tiefe. Hermann Broch und die Krise der modernen Tiefenepisteme. Typ Journal Article Autor Müller S Journal special issue "Hermann Broch: Poetik, Psychologie und Philosophie der Krise(n)"